Vor einer Woche berichteten wir über die Krisenstimmung bei Spiegel Online, weil Proteste in der islamischen Welt wegen der „Schädel-Affäre“ trotz massivster Unterstützung der deutschen Medien ausgeblieben waren. Dabei hatte sich der Spiegel im Verbund mit der Bild – also die beiden wichtigsten Meinungsmacher-Medien Deutschlands – so viel Mühe gegeben, damit wir genauso wichtig genommen werden wie die Dänen. Und diese undankbaren Moslems greifen diese Steilvorlage einfach nicht auf. Keine brennenden schwarz-rot-goldenen Fahnen, keine Selbstmordanschläge gegen deutsche Truppen, nix. Unsere BU vom 26.10. „Sind wir etwa nicht wichtig genug für solche Proteste?“ greifen Maxeiner & Miersch in ihrer wöchentlichen Welt-Kolumne auf und fragen „Was bilden die sich eigentlich ein? Sind wir weniger wichtig als die Dänen?“.

Seit einigen Wochen erleben wir eine Art journalistischer Adventszeit. Alle harren auf den großen Knall, den Aufschrei der islamischen Massen. Erst wegen der „Idomeneo“-Aufführung und dann, weil deutsche Soldaten in Afghanistan mit alten Knochen posiert hatten. „Die befürchteten Unruhen sind bislang ausgeblieben“, wunderte sich die „Bild“-Zeitung am Montag. Auf „Spiegel Online“ war zu lesen: „Noch schweigen die Terror-Websites nach der Totenkopfaffäre. Möglich, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm ist.“ Offenbar haben Bombenleger in Kabul, religiöse Hooligans in Islamabad und Hassprediger in Riad andere Empörungslaunen als deutsche Redaktionen. Was bilden die sich eigentlich ein? Sind wir weniger wichtig als die Dänen? Um aus keiner Nachricht einen knalligen Artikel zu stricken, bedarf es nur einiger kleiner semantischer Accessoires. Man beachte in den obigen Zitaten die Wörtchen „bislang“ und „noch“. Sie gehören zum unverzichtbaren Formulierungszubehör engagierter Adventsjournalisten. „Noch“ ist ein kleiner sprachlicher Tausendsassa, mit dem sich die tollsten Effekte erzielen lassen. Nehmen wir einen Beispielsatz: „Vor der Küste Floridas tummeln sich Delfine.“ Er klingt irgendwie zu gut und könnte aus einem Reisekatalog stammen. Fügen wir also unsere kleine Wunderwaffe ein: „Vor der Küste Floridas tummeln sich NOCH Delfine.“ Da weiß der Leser doch gleich Bescheid, Meeresverschmutzung und Klimaerwärmung werden diese Idylle bald zerstören. Das Schöne an der Formulierung ist, dass wir unsere Mahnung mit keinerlei Fakten untermauern müssen.

Ähnlich, wenn sich vor der Küste Floridas „die letzten“ Delfine tummeln. Da leuchtet jedem sofort ein, dass sie bedroht sind. Will der Autor sich gegen eventuelle Einsprüche von Fachleuten absichern, sollte er von der „schleichenden“ Bedrohung der letzten Delfine berichten. Da schwingt sofort die Sorge um die kommenden Generationen mit. Ob Fettleibigkeit, Vogelgrippe oder Unterschichtfernsehen: Unsere kleinen semantischen Helfer lassen sich bei allen Themen in allen Ressorts nützlich einsetzen. NOCH sind die Gewalt in Kindergärten, der Meeresspiegel und die Arbeitslosigkeit in Amerika nicht angestiegen. Aber nicht mehr lange, dann brechen die Sandkastenmassaker aus, Hamburg versinkt in der Nordsee, und die USA versinken im Elend. Wir erinnern uns mit Grausen an den BSE-Winter 2000/2001. Allein im Monat Januar erschienen damals 1311 Presseartikel zum Thema Rinderwahnsinn, die – ohne Beweise zu erbringen – höchste Gefahr für unser aller Leib und Leben implizierten (Radio und Fernsehen nicht mitgezählt). Bis heute ist die Krankheit bei keinem deutschen Rind ausgebrochen, und auch kein Mensch kam bisher zu Schaden (die Zahl der infizierten, aber nicht erkrankten Tiere liegt bei etwas über 400).

Von Waldsterben bis Aids, wo die Seuche in Europa mit großem Orchester herbeigeschrieben, aber die dann eintretende Megaseuche in Afrika übersehen wurde, zieht sich die Spur der impliziten Bedrohungen, denen keiner zu widersprechen wagt, solange die Hysteriekurve noch nicht abgeschwollen ist. „FAZ Online“ fragte diese Woche den Büroleiter von al-Dschasira, warum die „Idomeneo“-Affäre auf dem arabischen Sender kein großes Thema war. Herr Suliman antwortete: „Es gibt keine Beleidigten, aber die Polizei geht davon aus, dass es vielleicht welche geben könnte. Das ist doch keine Nachricht.“ Wir kennen die Gebräuche in der Al-Dschasira-Redaktion nicht. Aber wenn dort tatsächlich solche Sicherungen gegen aufgeblasene Nullnachrichten existieren, könnten sich deutsche Chefredaktionen ein Beispiel daran nehmen.

Was für ein Armutszeugnis für den deutschen Journalismus!

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