Justitia trägt bekanntlich eine Binde vor den Augen. Manchmal grübelt man, was uns dieses Sinnbild sagen will. Anlass dazu gab es jüngst, als in Köln der Jugendrichter Hans-Werner Riehe über Schuld und Unschuld des Erdinc S. zu befinden hatte. Der Fall war böse und hat die Lokalzeitungen wochenlang beschäftigt. Am Abend des 15. Februar 2007 war Waldemar W. zusammen mit seiner Freundin und vier kleinen Kindern auf dem Heimweg von einer privaten Karnevalsfeier, als er von vier jungen Männern angegriffen und beraubt wurde.
(Gastbeitrag von Heribert Seifert)
Die Täter, die rund 50 Euro erbeuteten, schlugen den Mann so wüst zusammen, dass er tagelang im Koma lag. Um keine unguten Gefühle gegen ohnehin unterprivilegierte Minderheiten aufkommen zu lassen, gingen die Medien ein paar Tage lang sehr diskret mit Angaben zur Herkunft der vier Herren um. Schließlich kamen der zwanzigjährige Erdinc S. als Haupttäter unter Anklage und sein „Migrationshintergrund“ doch noch in die Presse. Erstaunlicher Weise wurde er schon kurz nach seiner Verhaftung wieder in die Freiheit entlassen, da der Haftrichter trotz der intensivstationspflichtigen Verletzung des Waldemar W. nur von einer „einfachen Körperverletzung“ ausging, was keine weitere Inhaftierung rechtfertigte.
In der Hauptverhandlung, die mehr als ein Jahr später in diesem Mai den Fall abschließen sollte, setzte Jugendrichter Hans-Werner Riehe diese Linie einer Rechtsprechung fort, die ganz den schönen erzieherischen Zielen des deutschen Jugendstrafrechts verpflichtet ist: Die Schuld des Erdinc S. wurde zwar zweifelsfrei festgestellt, doch galt die Tat als minder schwer, weil das Opfer ja keine bleibenden Schäden davon getragen habe. Eine Jugendstrafe kam daher nicht in Betracht, schon gar nicht im Umfang von 3 1/2 Jahren, wie sie die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Auch eine Bewährungsstrafe war nicht angesagt, womit selbst der Verteidiger gerechnet hatte. Nicht einmal „Sozialstunden“, jene wahrhaft fürchterliche Sanktion deutscher Erziehungsjustiz, mochte Richter Riehe verhängen. Ein fester Job, eine schwangere Freundin und das Fehlen „schädlicher Neigungen“ wurden Erdinc S. zugute gehalten.
Immerhin schien dem Richter das Verhalten des jungen Mannes doch nicht ganz ohne Fehl und Tadel zu sein, weshalb er ihm die Teilnahme an einem Anti-Aggressionstraining auferlegte. Nun mag das womöglich stundenlange Beisammensein mit einem Psychologen oder gar Sozialpädagogen für einen so schön im Safte stehenden jungen Mann wie Erdinc S. einer ist, ja wirklich keine angenehme Sache sein, aber eine Strafe im landläufigen Sinne wird man es doch eher nicht nennen wollen.
Darüber hinaus soll er in den nächsten zwei Jahren schärfstens beobachtet werden. Dieses Versprechen dürfte Erdinc S. allerdings schon kennen, wird er doch bei der Kölner Staatsanwaltschaft als „Intensivtäter“ geführt. So wusste man, dass er kurz vor dem Überfall auf Waldemar W. einen Raub begangen hatte, dessen richterliche Würdigung nach Presseberichten ebenfalls nur in einer Schuldfeststellung bestand. Man weiß ja, dass das Heranreifen junger Menschen in Schüben und in Sprüngen sich vollzieht und manchmal auch etwas länger dauert. Richter Riehe möchte diesen Prozess offensichtlich nicht stören, sondern eher empfindsam begleiten. Und wahrscheinlich wird er auch Recht behalten, so dass die Kölner, vielleicht in zehn Jahren, vom dann dreißigjährigen Erdinc S. ein etwas konventionelleres Sozialverhalten erwarten dürfen.
Richter Riehe ist aber nicht bloß ein engagierter Erzieher junger Menschen, die, wie er später schrieb, „durch verschuldete wie auch unverschuldete Umstände zu Tätern geworden sind“. Als die Kölner Öffentlichkeit die Weisheit seines Rechtsspruches nicht gleich erkennen wollte und so heftig grummelte, dass auch die Lokalpresse dem ein Echo geben musste, setzte er eine wahrhaft beispielhafte Aufklärungsaktion ins Werk. Zusammen mit sieben Kollegen verfasste er einen offenen Brief, in dem er Kölns Bürger über die engen Grenzen belehrte, die einer Kritik seiner Entscheidungen gesetzt seien. „Im Prinzip“ sei „sachliche Kritik“ an richterlichen Urteilen natürlich erlaubt, im Fall Erdinc S., also konkret, allerdings nicht. Denn er und seine Kollegen urteilen als strenge Priester der blind gemachten Göttin immer strikt nach „vernunftbezogenen Kriterien“, und die folgen nun mal nicht dem „archaischen Rachebedürfnis“ des populistisch aufgeregten Mobs, der Erdinc S. lieber im Knast als beim Therapeuten sehen wolle.
Wir waren noch damit beschäftigt, die erhabene Größe dieser Auskunft so ganz zu verstehen, da fiel uns ein anderes Urteil ein, das schon vor ein paar Monaten erging. In der Adventszeit des letzten Jahres sprach Richter Klaus Denk im sächsischen Oschatz Recht und verurteilte – nachdem nur vier Monate zwischen Tat und Urteil verstrichen waren – einen 23-jährigen Mann zu acht Monaten Gefängnis ohne Bewährung, weil er sich in Mügeln bei den bundesweit bekanntgewordenen „ausländerfeindlichen Ausschreitungen“ der Volksverhetzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung schuldig gemacht habe. Die Tür einer Pizzeria hatte der junge Mann beschädigt und eine Scheibe eingeschlagen. Ob er dabei noch ausländerfeindliche Parolen gerufen hat, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Sicher ist, dass er niemanden verletzt hat, aber ein eingesetzter Polizist hatte erklärt: „Das hätte auch schief gehen können!“ Richter Denk erkannte, in gewissenhafter Abwägung der Gefahren , die im Konjunktiv II lauern können und sicher auch auf Grund jener „vernunftbezogenen Kriterien“ , nach denen in Köln wie in Oschatz Recht gesprochen wird, dass unabhängig von bestimmten Petitessen der Angeklagte eine „führende Rolle gespielt“ habe, was jeden Spielraum für eine Bewährungsstrafe ausschließe.
Auf den ersten Blick kriegt man die beiden Urteile nicht zusammen. Gibt man sich aber Mühe, dann kann man sich schon in die besondere Vernunft hineindenken, die hier waltet, und wird auch das Oschatzer Urteil aus ganzem Herzen begrüßen. Denn der Mann aus Mügeln ist nicht nur drei Jahre älter als der Kölner Täter und muss als autochthoner Deutscher auch den Konjunktiv kennen, was einem jungen Menschen mit Wanderungsschicksal nicht zuzumuten ist. Vor allem aber hat der Sachse bisher nicht durch entschlossene Arbeit an einer Intensivtäter-Biographie glaubhaft machen können, dass er sich noch in einer vielversprechenden Entwicklung befinde, die es erzieherisch zu beeinflussen gilt.
Da blieb dem Richter Denk gar keine andere Wahl. Wir müssen seinen Rechtsspruch als zwingend anerkennen – sonst müssten wir ja glauben, dass Justitias Binde in manchem deutschen Gerichtssaal durch ein Brett ersetzt wurde, das sich die Richter selber vor den Schädel nageln.
Der Artikel erscheint in der nächsten Ausgabe von „Gegengift“ [1], der Zeitschrift für Politik und Kultur.