Moderatorin: Herzlich willkommen beim tagesschau-Chat im ARD-Hauptstadtstudio. Mein Name ist Corinna Emundts. Zu Gast heute ist der frischgewählte Prteivoristzende der Grünen, Cem Özdemir. Herzlich willkommen auch an Sie, Herr Özdemir – und danke, dass Sie sich Zeit genommen haben, hierher zu kommen! Können wir loslegen?
Cem Özdemir: Absolut, danke für den freundlichen Empfang!
Moderatorin: Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie gesagt, sie trauen sich das Amt des Grünen-Parteivorsitzenden nicht zu. Was führte zu dem Sinneswandel?
Cem Özdemir: Das Amt des Parteivorsitzenden generell, aber im besonderen bei mir in der Partei, ist ein sehr anspruchsvolles…
und es will gut überlegt sein. Und ich habe es mir gut überlegt und mich dann entschlossen dass ich Parteivorsitzender werden möchte…
nachdem für mich auch klar war, dass sich das mit meinen Pflichten als Vater vereinbaren lässt.
Moderatorin: Das sagt einer der Partei, die lange schon für Vereinbarkeit von Familie und Beruf kämpft?
Cem Özdemir: Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei jemandem mit einer 70-Stunden-Woche gelegentlich auseinander…
um so wichtiger dass man vorher gut plant und es sich vor allem gründlich überlegt…
Ich gehöre zu einer Generation die beides zusammenbringen möchte…
Beide Elternteile berufstätig und beide Elternteile mit ihrem Anspruch genug Zeit für sich und für das Kind zu haben…
im Grunde bin ich doch sogar eigentlich privilegiert im Verhältnis zu vielen anderen in der Gesellschaft…
da ich beispielsweise morgens meine Tochter selber in den Kindergarten bringen kann und anschließend zur Arbeit gehen kann…
viele Menschen haben eine solche Möglichkeit nicht, weil es entweder von der Arbeitszeit her nicht geht oder die entsprechende Kinderbetreuungseinrichtung fehlt.
Moderatorin: Im Prechat wurde häufig für die Frage gestimmt, warum Sie nach der Bonusmeilenaffäre wieder auf die politische Bühne gegangen sind.
Cem Özdemir: Die Logik kann glaube ich nicht so funktionieren, dass derjenige der Verantwortung übernimmt lebenslänglich bekommt…
und derjenige der auf Durchzug schaltet sich damit für höheres berufen zeigt…
zumindest wäre dies nicht meine Logik…
ansonsten ist es aber so dass ich nach 2002 ernsthafter aus der Parteipolitik schon draußen war und auch nicht so schnell vor hatte wieder aus den USA zurückzukehren…
Reinhard Bütikofer und Daniel Cohn-Bendit, die ich bei ihren USA-Reisen getroffen habe, haben mich aber überzeugt für das Europa-Parlament 2004 zu kandidieren…
Moderatorin: Noch eine Frage aus dem prechat dazu:
„Befürchten Sie nicht ein Glaubwüdigkeitsproblem nach der versäumten Steuerpflicht, der Hunzigeraffäre und der Bonusmeilenskanal? Alles vergeben und vergessen?“
Cem Özdemir: ich habe meine Steuerpflicht nicht versäumt sondern erfüllt…
und in Sachen Hunzinger meinte der in dieser Frage wohl eher unverdächtige, Hans-Christian Ströbele, zum Zeitpunkt der Aufnahme des Darlehens hätte er mir auch nicht davon abraten können…
bei den Bonusmeilen habe ich private und dienstliche nicht geteilt, so wie viele andere auch…
und dies nicht aus Böswilligkeit sondern weil ich davon ausging, dass ich genug privat erworbene Meilen habe…
für all dieses habe ich Verantwortung übernommen, in dem ich – wie angekündigt – das Mandat nicht angenommen habe, nachdem ich für den Bundestag wiedergewählt worden war…
dies gibt mir jetzt allerdings auch die Möglichkeit an dem gemessen zu werden, was ich zuvor gemacht habe und vor allem aber was ich seither mache…
man wird verstehen dass ich doppelte Standards nicht akzeptiere, auch in dieser Frage nicht.
Das es immer wieder welche geben wird, die mir Fragen stellen die sie anderen nicht stellen, ist mir nicht ganz unvertraut.
Moderatorin: wieso?
Cem Özdemir: Es hat sich auch nicht jeder darüber gefreut, dass jemand wie ich da ist wo er heute ist.
Dennis: Auf die Landesliste wollte man Sie nicht wählen. Warum glauben Sie das Ihnen die Partei als Vorsitzender folgen wird.
Cem Özdemir: Weil diejenigen die mich auf die Landesliste in Baden-Württemberg nicht gewählt haben, mir auch dort schon gesagt haben, dass sie mich als Bundesvorsitzenden wollen…
und das Ergebnis auf dem Bundesparteitag, dass für grüne Verhältnisse (bei uns gibt es keine 90%-Ergebnisse für Vorsitzende) sehr gut war, zeigt…
wie breit die Unterstützung in der Partei ist…
die Landespartei in Baden-Württemberg tut sich traditionell schwer mit der Vereinbarkeit von Amt und Mandat…
dies muss man verstehen, vor dem Hintergrund unserer Tradition…
traditionell wollen viele bei uns vermeiden dass einzelne in der Führung zu viele Aufgaben und zu viel Macht in einer Person konzentrieren.
Alessandra: Lieber Cem! Was hast du in deiner Zeit im europäischen Ausland gelernt und wie wirkt sich diese Erfahrung nun auf dein politisches Engagement aus?
Cem Özdemir: In einem Parlament mit 27 Mitgliedsländern bleibt es nicht aus dass man viel lernt über die Hintergründe der anderen Kollegen, um nur ein Beispiel zu nennen:
Die Länder, die diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs waren, haben beispielsweise oft einen ganz anderen Zugang zum Verhältnis zu Russland…
spannend für mich ist auch, dass das Europäische Parlament im Gegensatz zu nationalen Parlamenten nicht über einen strengen Fraktionszwang verfügt…
das heißt, bei uns suchen sich die Themen ihre Mehrheiten…
für den einzelnen Abgeordneten bedeutet das, dass er mal mit konservativen Kollegen und mal mit Kollegen von der Linkspartei bei bestimmten Themen zusammenarbeitet…
etwas von dieser Flexibilität und Offenheit in den etwas robusteren Alltag von Berlin rüberzuretten, würde ich gerne versuchen.
Was sicherlich bleiben wird, ist meine Begeisterung für Europa.
pp: Cem, was muss geschehn, damit Dein Migrationshintergund nicht mehr im Vordergrund steht, sondern die politischen Inhalte für die Du stehst?
Cem Özdemir: Nicht ohne Grund habe ich in meiner Rede auf dem Bundesparteitag in Erfurt das Thema „Migration“ mit keinem Wort erwähnt…
sondern als es beispielsweise um das Thema „Bildung“ ging, von Arbeiterkindern gesprochen…
denn schließlich haben deutsche Arbeiterkinder keine grundlegend anderen Probleme, als türkischstämmige Arbeiterkinder…
die an den unsichtbaren Mauern des deutschen Schulsystems – das genau diese soziale Schicht systematisch von höheren Schulen und damit von Zugang zu den Universitäten ausschließt – scheitern.
Mein Wunsch ist dass wir eines Tages in einer farbenblinden Gesellschaft leben…
die Menschen nicht danach beurteilt welcher Religionsgemeinschaft sie angehören oder wo ihre Vorfahren herkommen…
sondern danach was sie zu sagen haben und was sie machen.
Dies wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen…
Moderatorin: Tja, aber da würde ich gerne einhaken: Wieso haben Sie dann gleich quasi als erste Amtshandung das „Türkisch in der Schule“-Thema in der „Bild“-Zeitung gespielt?
Cem Özdemir: Meine Ansage war doch eigentlich sehr klar: Deutsch muss die erste Sprache sein und wenn neben Englisch, Französisch, Russisch und anderen Sprachen die bei uns angeboten werden auch Türkisch als weiteres Fach angeboten wird, kann dies der Gesellschaft eigentlich nur gut tun.
Nochmals: Grundlage sind gute Deutschkenntnisse für alle…
dies gilt auch für den Schwaben Cem Özdemir, der schließlich auch hochdeutsch lernen musste.
Spannend ist allerdings was die Zeitungen und vor allem Agenturen aus dem was ich gesagt habe, gemacht haben, dies fängt schon bei der Überschrift der BILD-Zeitung an…
und hört bei den Reaktionen noch nicht auf…
es zeigt mir eigentlich nur dass man künftig bei der PISA-Studie nicht mehr nur 15jährige sondern auch den Berufsstand der Politiker und möglicherweise auch der Hauptstadtjournalisten und vor allem derjenigen die Agenturmeldungen machen, mit einbeziehen sollte…
ich bin mir allerdings nicht ganz sicher ob die möglichen Resultate so wären, wie wir uns das alle wünschen sollte.
Simon: Sehr geehrter Herr Özdemir, welches Motiv vermuten sie, dass die Bild so gegen sie wettert?
Cem Özdemir: Ich würde nicht sagen dass die BILD gegen mich wettert…
denn in der Reaktion am nächsten Tag wurde ja auch wiedergegeben, dass es unterschiedliche Rückmeldungen gab…
die BILD ist die BILD und die BILD will sich verkaufen und braucht dafür eine gute Schlagzeile…
und wenn ich sie nicht liefere, dann muss man eben etwas zuspitzen.
Viel bemerkenswerter ist, dass seriöse Medien die dieses eigentlich wissen sollten, ausschließlich die Überschrift zitieren und damit eine virtuelle Debatte entfachen zu der sich dann wiederum virtuelle Politiker äußern und so weiter…
Eigentlich sollte der Ernst der PISA-Studie und ihre Ergebnisse dazu führen, dass man mit einem solchen Thema mit etwas mehr Tiefgang herangeht…
aber vielleicht hat meine Erwartungshaltung auch damit zu tun, dass ich noch immer etwas von dem Stil in Brüssel „verdorben“ bin.
Moderatorin: Die folgende Frage an Sie ist zugleich eine, die viele User vorab für besonders wichtig bewertet haben.
Nichttürkischer Ausländer: Finden Sie nicht, dass die Türkisch-Unterricht an den deutschen Schulen zu 2 Klassen Ausländerschaft führt? Warum sind Sie für die Sonderrechte für Türken? Warum missachten Sie die anderen Kulturen?
Cem Özdemir: Es ist immer schwierig Positionen zu verteidigen die man nie vertreten hat…
dies meine ich mit virtuellen Diskussionen…
ich setze mich dafür ein, dass neben der deutschen Amtssprache und den wichtigsten Fremdsprachen auch andere Sprachen in unserer Gesellschaft unterrichtet werden…
wo immer es entsprechende Nachfrage gibt…
dies bedeutet für meine Tochter beispielsweise dass sie auf einen spanisch-deutschen Kindergarten geht weil ihre Mutter Argentinierin ist…
für andere mag es bedeuten, dass sie neben deutsch, kurdisch, arabisch, persisch oder was auch immer lernen…
es gibt ein schönes anatolisches Sprichwort, dass heißt: Eine neue Sprache ist wie ein neuer Mensch.
Dem kann ich nicht viel hinzufügen außer der Verwunderung darüber wie schwer man sich in Deutschland tut mit der Mehrsprachigkeit.
banjo: Zuidem ist ein Zweitsprachenerwerb erwiesen nur dann möglich, wenn die Muttersprache ausreichend beherrscht wird. Erst dann kann auf dieser aufgebaut werden. Warum wird so wenig auf dieser Grundlage diskutiert. Ich begrüße Ihre Wahl. welche Konzepte wollen sie zur Integration in unserer Gesellschaft vorranbringen?
Cem Özdemir: Es ist nicht zwingend so, dass man erst die Muttersprache gelernt haben muss…
wichtig ist vor allem dass man eine Sprache richtig gut lernt,…
die Eltern sollten die Sprache vermitteln, die sie am besten können..
deshalb ist es auch Quatsch wenn einige „Experten“ sagen, die Eltern sollen in jedem Fall deutsch mit ihren Kindern sprechen…
wenn es fehlerhaftes deutsch ist, versündigt man sich an den Kindern eher.
mahdi1: Guten Tag Cem Özdemir, ich möchte Sie fragen, was werden sie für Muslime in Deutschland tun, um deren Rechte zu stärken, und dafür zu sorgen, dass trotz einer Integration (die sein muss), der Islam trotzdem ausgelebt werden kann? Ich wäre sehr dankbar für ihre Antwort
Cem Özdemir: Ich mache keine spezielle Politik für eine Religion…
der Islam und damit auch die Muslime sind Teil unserer Gesellschaft,…
dazu gehört auch der Bau von Moscheen und damit der Abschied von den Hinterhöfen…
oder das Thema Religionsunterricht…
es ist mir schließlich lieber wenn hier ausgebildete Religionslehrer in deutsch muslimische Kinder unterrichten und nicht irgendwelche radikalen Prediger.
Moderatorin: Ich bitte um Verständnis, dass wir nun zu den politischen Fagen zu den grünen wechseln, dazu sind bereits ebenfalls hier live in diesen Minuten sehr viele Fragen eingetroffen.
Laurens: Ich habe große Sorge, dass Sie eines der Kernthemen der Grünen, den Umweltschutz und insbesondere den Klimaschutz, unter den Tisch fallen lassen oder auf Kuschelkurs mit der halbherzigen Unionspolitik gehen. Warum widmen sie diesen wichtigen Themen so wenig Aufmerksamkeit?
Cem Özdemir: Wie kommen Sie darauf, dass ich dem Thema wenig Aufmerksamkeit widmen würde?
Es ist praktisch in jeder Rede Kernbestandteil und einen Kuschelkurs mit der Union kann ich bei bestem Willen nicht erkennen.
Dies müssten Sie schon belegen.
Die Grünen haben eine sehr klare Position in Sachen Atomausstieg und die Union muss wissen, dass es da nichts zu verhandeln gibt…
und auch der Bau neuer Kohlekraftwerke zusätzlich zu den bereits bestehenden und in Bau befindlichen ist mit uns nicht zu machen.
Moderatorin: Bei folgender sehr umfassenden Frage bitte ich um eine KURZE Antwort im Interesse aller anderen noch Fragenden! 😉
Peter Klaus: Was sind Ihre Ziele für den Bundestagswahlkampf 2009 und mit wem wollen sie eins Koalisation eingehen und warum gerade mit diesem ?
Cem Özdemir: Ich kann verstehen dass viele die Koalitionsfrage interessiert,…
Spiegelturm: Schwarz-Grün als option für die Zukunft 8auch in Hessen)?
Cem Özdemir: mich interessiert aber vor allem dass die Grünen gestärkt in diese Wahlauseinandersetzungen gehen…
und gute Ergebnisse einfahren…
über Koalitionen wird nicht entlang arimethischer Mehrheiten entschieden sondern es geht hier um Inhalte.
Und zwar grüne Inhalte…
und dann schauen wir mit wem wir sie am besten umsetzen können.
Moderatorin: Eine Reaktion zur vorab gestellten Frage. Wir bleiben dennoch bitte bei den Grünen. Wollen Sie mit inem Satz reagieren?
Laurens: auf ihrer Homepage ist das Thema kaum erwähnt
Cem Özdemir: Es ist die Homepage des Europa-Abgeordneten Cem Özdemir und sie gibt insofern die Arbeit des Europa-Abgeordneten Cem Özdemir wieder…
und Cem Özdemir ist im Europa-Parlament außenpolitischer Sprecher der Grünen…
wenn Sie aber schauen, auch dies findet sich auf meiner Website, welche Interviews ich im letzten halben Jahr zu welchen Themen gegeben habe…
dann ist es glaube ich sehr eindeutig oder?
kayboard: Sehr geehrter Herr Özdemir, ich würde gerne weg von der nationalitäten Frage, sondern wechseln in ein Thema, welches sehr präsent ist: Politikverdrossenheit der Wähler, Reszession, überzeugen Sie mich bitte in wenigen Worten, warum ich Ihre Partei als vorr. Koalitionspartner der CDU bei der nächsten Bundestagswahl wählen soll?
Fr. Vogt: Mit welcher Koalitionsaussege gehen Sie in die Bundestagswahl 2009? Ich gehe nämlich davon aus, dass wenn Sie sich mit der Union zusammentun würden, immer weniger Bürger die Grünen wählen würden. Auch in Hamburg haben Sie damit viele Stimmen verloren. Sehr viele ehemals links-alternative Wählerinnen und Wähler wandern ab zur Linkspartei. Was sagen Sie dazu?
Cem Özdemir: Ich sehe nicht dass wir Koalitionspartner der Union werden sollen…
so wie Frau Merkel gegenwärtig von ihren heeren Zielen des Klimaschutzes verabschiedet hat und bedauerlicherweise mit Umweltminister Gabriel zusammen in Brüssel jede Art von Fortschritt in Sachen „Reduzierung des CO2-Ausstoßes im Automobilverkehr“ verhindert…
geht da nicht sehr viel mit uns.
Wer sich gegen ein Tempolimit wendet und eine CO2-basierte-Kfz-Steuer nicht einführt, meint es nicht ernst mit dem Klimaschutz.
Ich hoffe dies war klar genug.
In Hamburg geht es um eine Landeskoalition und Landeskoalitionen werden bei uns von den Landesverbänden entschieden…
und die grüne Handschrift ist dort klar zu erkennen.
Sealand: Sehr geehrter Herr Özdemir, wie beurteilen Sie die Situation der Grünen in Hessen in Hinblick auf die anstehenden Neuwahlen?
Spiegelturm: Welche Lehren ziehen Sie aus den vorgängen in Hessen?
Cem Özdemir: Ich ärgere mich über den Ypsilanti-Walter-Chaosladen, der das Projekt „Eine Mehrheit jenseits von Roland Koch“ an die Wand gefahren hat…
jetzt ist aber auch klar worum es in Hessen geht…
wer möchte dass derjenige der Minderheiten in früheren Wahlkämpfen stigmatisiert hat und Umweltschutz für einen Standortnachteil für die hessische Wirtschaft hält, Ministerpräsident bleibt…