Die Moral ist in Verruf geraten. Man will davon kein großes Aufhebens mehr machen. Wer die Einhaltung moralisch begründeterer Verhaltensnormen im alltäglichen Umgang einfordert oder auch nur ihre Missachtung beklagt, läuft leicht Gefahr, sich lächerlich zu machen. Bestenfalls wird er noch als ein griesgrämiger Spielverderber, schlimmstenfalls als moralinsaurer Moralapostel angesehen. So oder so ist er dem Vorwurf ausgesetzt, die individuelle Freiheit einschränken zu wollen. Die Kopfnoten auf den Zeugnissen der Schüler, heißt es schon seit Jahren, bedrohten die ungehemmte Entfaltung der Persönlichkeit, weil sie das Verhalten der Kinder nach Maßstäben bewerten, die alle über einem Kamm scheren.

(Von Thomas Rietzschel)

Ganz abgesehen davon, dass das so nie stimmte, wird dabei stets das Wesentliche übersehen. Basiert doch die Freiheit eines jeden auf einem Verhaltenskodex, der das Zusammenleben aller überhaupt erst ermöglicht. Wie sonst sollten wir produktiv kooperieren? Die Wirtschaft, die Politik, die Justiz, alles, was unsere Gesellschaft als solche erhält, wäre ohne diese moralische Übereinkunft undenkbar.

Ihre Verteidiger, die Moralisten der Aufklärung, überragende Denker wie der französische Philosoph Montaigne, der deutsche Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg und auch ihr später Nachfahre Erich Kästner, nun gewiss kein lustfeindlicher Stubenhocker, sie alle wussten: Die Moral ist ein Kulturgut, das wir uns durch Bildung aneignen müssen, Generation für Generation. Dass es eine Moral an sich geben müsste, einen Kodex, der uns gleichsam mitgegeben wäre, wurde immer wieder angenommen, gehofft und gewünscht, bestätigt hat es sich bisher noch nicht.

Zwar war Jean-Jacques Rousseau, von der Nachwelt gern als philosophischer Gewährsmann antiautoritärer Erziehung bemüht, in seiner ersten größeren Abhandlung über den Einfluss der Wissenschaft auf die Läuterung der Sitten 1750 noch davon ausgegangen, dass der Mensch ursprünglich gut sei und das Ziel der Erziehung in der Bewahrung dieser Unschuld bestehen müsse, doch stellte er schon wenig später, in seinem1762 erschienenen »Gesellschaftsvertrag«, fest, dass es des politisch mündigen, das heißt des gebildeten Bürgers bedürfe, um das Gemeinwesen moralisch zu festigen. Nachfolgende Reformpädagogen sind gern wieder hinter diese Erkenntnis zurückgefallen, um einem individualistischen Erziehungsprinzip zu huldigen, bei dem dann oftmals die narzisstische Selbstbestätigung des Erziehers im Vordergrund stand.

Auch die zwischen 1890 und 1930 aufblühende Reformpädagogik war diesem Geist entsprungen; auch die 1910 gegründete Odenwaldschule war ein Projekt des Idealismus. Gegen die herrschende Moral, deren Herleitung aus der christlich-abendländischen Kulturgeschichte zunehmend scheinheilig wirkte, erst recht vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, wurde das Ideal einer Moral gesetzt, die dem natürlichen Verlangen des Menschen entsprechen wollte. In diesem Sinn sollten die Schüler zur Selbstverwirklichung ermuntert werden. Ein großes Ziel fürwahr – nur war es erstens weltfremd und zweitens in vielen Fällen auch wieder bloß Ausdruck einer perfiden Scheinheiligkeit, insofern die propagierte Freizügigkeit manchen Lehrern dazu diente, ganz andere Leidenschaften moralisch zu bemänteln, wie wir unterdessen wissen.

Unter dem Leitgedanken »Werde, der du bist« sollte eine Jugend erzogen werden, die dem Wunschbild ihrer Erzieher entsprach. In dem Maße, in dem das egozentrisch orientierte Individuum an Bedeutung gewann, konnte sich ein pädagogischer Reformismus entwickeln, der nachhaltigen Einfluss auf das Kulturgut der Moral gewann, indem er es schlichtweg in Frage stellte. Das soll nicht heißen, dass besser immer alles beim Alten geblieben wäre. Die Rohrstock-Schule des wilhelminischen Kaiserreiches wäre der Zukunft nicht gewachsen gewesen. In den Schulgeschichten des frühen 20.Jahrhunderts, in den Erzählungen von Rilke, Hesse, Musil oder Werfel, sind diese bösen Erfahrungen erschreckend aufgehoben. Allerdings ist diese Literatur auch noch erfüllt vom Glauben an eine Moral, deren Wertvorstellungen sich aus der humanistischen Tradition der bürgerlichen Zivilgesellschaft ergaben. (Weiterlesen auf deutscherarbeitgeberverband.de)


Dr. Thomas Rietzschel, ehemals FAZ Kulturkorrespondent ist heute freier Autor; zuletzt erschienen:

» „Geplünderte Demokratie. Die Geschäfte des politischen Kartells“
» „Die Stunde der Dilettanten. Wie wir uns verschaukeln lassen“

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27 KOMMENTARE

  1. Hätte die Moral in unserer Gesellschaft noch einen Stellenwert, könnten wir uns hier viele, sehr viele Diskussionen sparen. Es gäbe schlichtweg viel weniger zu diskutieren.

    An dieser Stelle muß ich einfach den 68ern meine Hochachtung aussprechen.
    Sie haben in einer Generation erreicht, die Errungenschaften vieler Jahrhunderte zur Kultivierung und Moralisierung eines Volkes zu degenerieren.

  2. Kulturverfall. Kann man täglich in Bussen, Bahnen und auf der Stra0e sehen. Gefühlte tausende Leute mit der Bierpulle am Hals.

    Die Kultur is am Arsch, der Klo kommt in die Küche.

  3. Positive Wertvorstellungen als auch ihre Vermittlung brauchen keinen Zwang im Sinne von staatlicher Bildung oder Bevormundung.

    Eltern haben den natürlichen Auftrag ihren Kindern Werte vorzuleben und sie so lange zu versorgen bis sich das Kind selbst dazu entscheidet für seinen Lebensunterhalt was beizutragen.

    Eltern kriegen dadurch den Anreiz von Anfang an ein vernünftiges Leben zu vermitteln und das im Rahmen der aber eben nicht auf Zwang basiert, sondern bei Bedarf der Förderung geistlicher Gaben des Kindes hilfreich ist,… zumindest sollte das erstrebenswert sein.

  4. Betr.: »Werde, der du bist«, oder auch:
    In diesem Sinn sollten die Schüler zur Selbstverwirklichung ermuntert werden. –>

    „Die Idee der `freien Entfaltung der Persönlichkeit` scheint ausgezeichnet, solange man nicht auf Individuen stößt, deren Persönlichkeit sich frei entfaltet hat.“
    Nicolás Gómez Dávila (1913 – 1994), kolumbianischer Philosoph

  5. Wer die Einhaltung moralisch begründeterer Verhaltensnormen im alltäglichen Umgang einfordert oder auch nur ihre Missachtung beklagt, läuft leicht Gefahr, sich lächerlich zu machen.

    Und bei Migranten läuft man außerdem Gefahr, deswegen auf die Mütze zu bekommen.

  6. Realität 2014 in „BuntSchland“:

    Wer die Einhaltung moralisch begründeter Verhaltensnormen im alltäglichen Umgang einfordert oder auch nur ihre Missachtung beklagt,…

    …ist ein Nazi, oder wird als solcher diffamiert.

  7. Diese Entwicklung beobachte ich bei meinem Arbeitgeber schon seit ca. 15 Jahren. Ich als leitende „Elite“ breche die Norm (besser noch Gesetze) ,Du brichst die Norm…also sind wir uns ja einig. Damit schadest Du mir nicht und bist befördert. So läuft es halt bei der Mafia!

  8. Moral – Wer will in diesen Zeiten schon nach den Sternen greifen.
    Ich wäre schon froh, wenn die Politiker sich an den Wortlaut ihres Eides „Dem Wohl des deutschen Volkes dienen ….“ halten würden!

    Ich glaube, ich muß einmal einen PI-freien Tag machen, und mich nur in Haus und Garten aufhalten; alles ist so deprimierend. Radio und Fernsehen bleiben schon lange ausgeschaltet, und morgens, wenn unsere „noch“ abonnierte Tageszeitung zur Verfügung steht, muß mein Mann für mich den „Pressereferenten“ machen, damit ich nicht schon beim Frühstück zu direkt mit den nackten Tatsachen konfrontiert werde.

  9. Die Moral ist in Verruf geraten.


    Es gibt keine Moral mehr. Der Bürger muß die Fresse halten.

    Die Ablehnung der EBI (Europäische Bürgerinitiative) wird damit begründet, die Verhandlungsmandate zu TTIP und zum CETA seien keine Rechtsakte, sondern interne Vorbereitungsakte zwischen den EU-Organen und insofern durch eine Bürgerinitiative nicht anfechtbar. „Die Auffassung der Kommission, dass nur Rechtsakte mit Wirkung auf Dritte durch eine EBI berührt werden dürfen, ist offensichtlich rechtsfehlerhaft. Das Verhandlungsmandat der Kommission ist ein förmlicher Beschluss des Rats und ein Rechtsakt. Würde die Rechtsauffassung der Kommission Bestand haben, hieße das im Klartext: Der Bevölkerung sind bei der Entwicklung internationaler Verträgen jeder Art die Hände gebunden – eine Auskunft, die ebenso erschreckend wie skandalös ist“, so Efler.

    Darüber hinaus, so die Begründung, könne die Kommission keine negativen Ratifizierungsvorschläge machen und insofern der EBI-Forderung, die Verhandlungen über CETA und TTIP nicht abzuschließen auch nicht nachkommen.

    „Im Umkehrschluss heißt das, internationale Verhandlungen der Kommission dürfen durch Bürgerinnen und Bürger nur bejubelt, nicht aber kritisiert werden“, fasst Efler zusammen. Das EBI-Bündnis, das vor Einreichung der Bürgerinitiative ein eigenes Rechtsgutachten eingeholt hatte, erwägt nun rechtliche Schritte und will den für diesen Fall vorgesehenen Weg vor dem Europäischen Gerichtshof prüfen.

    http://www.lifegen.de/newsip/shownews.php4?getnews=m2014-09-11-4917&pc=s01

  10. Leute gehen heute so angezogen durch die Stadt , wie ich nicht mal zu Hause oder am Strand rumrennen würde.
    Feinripp-Unterhemd, Badeschlappen, Unterhose sichtbar.

    Verprollung total.

  11. Die Moral hat sich spätestens an dem Tag im Jahr 1980 verabschiedet, als die grüne Anarchistentruppe in Schlappen und Turnschuhen, Häkelpulli und Palestinänsertuch im Hessischen Landtag eingefallen ist ! Der schwärzeste Tag in der Nachkriegspolitik !

  12. Eine Begebenheit und nicht gelogen!!
    Ich war heute gegen 14.00 Uhr im Möbelhaus WEKO in Pfarrkirchen und habe ein bestelltes Passepartou abgeholt. Bei den Bilderahmen steht eine ältere Dame, nicht schlecht gekleidet, und suchte einen Rahmen für ein selbstgemaltes Bild aus. Das Bild hatte eine Größe so von 60 x 80 und war, sagen wir es so, sehr laienhaft gemalt. Und wißt ihr was die gemalt hat: EINE MOSCHEEEEE !! Ich habe hinterlistig ein Gespräch angefangen. Die Dame, um die 70, will das Bild im Esszimmer aufhängen. Ich wollte wissen warum man sich ein Bild von einem Tempel in dem zum Kopfabschneiden aufgerufen wird in seine Wohnung hängt. Darauf kam ein Wortschwall im feinsten niederbayrisch, Originalton Süd, das das alles nur Hetze von Nazzies sei und die Moslems wären brave Leute.
    Ich hab mich umgedreht und bin gegangen.
    Wie gesagt: NICHT gelogen. Ich sitz nun in meinem Gartenhaus und hab mit ein Flasche Aldersbacher Kloster Weisse auf gemacht. Vermutlich nicht die letzte heute.
    Alles fließt. Auf bairisch: Ois geht den Bach obe.

  13. Darauf gibt es nur eine Antwort,das Totschlagargument:`Mit 20 war ich Links und Dumm,Heute ist es Andersrum`
    (Moral fängt bei der Sprache an 😉

  14. Oder auch:

    Wer mit 20 nicht links ist, hat kein Herz.

    Wer mit 30 noch links ist, hat keinen Verstand.

  15. OT

    Asylgrund Ebola

    http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/in-hessen-kein-abschiebestopp-in-ebola-laender-13184287.html

    Hessen schiebt weiter in Eloba-Länder in Westafrika ab – anders als etwa Rheinland-Pfalz und Niedersachsen. Hessen sieht sich damit in Einklang mit der bisherigen Linie des Bundes.

    http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kampf-um-kobane-terrormiliz-is-enthauptet-kurdische-kaempfer-13184162.html

    Die Kämpfe nahe der nordsyrischen Stadt Kobane dauern an. Nahe der kurdischen Enklave soll es zu weiteren Enthauptungen gekommen sein. Die Extremisten sollen seit Beginn ihrer Angriffe schon mehr als 300 Dörfer im Umland unter ihre Kontrolle gebracht haben.
    Die Orte liegen an der Grenze zur Türkei in einer Enklave, die von kurdischen Volksschutzeinheiten kontrolliert wurde.
    Bei Kämpfen und Terroranschlägen im Irak kamen im vergangenen Monat mehr als 1100 Menschen ums Leben.
    Mehr als 850 der Getöteten seien Zivilisten gewesen.<<

    Have a nice day.

  16. Eine Gesellschaft die das Gute und das Böse als gleichberechtigte Lebensformen nebeneinander stellt, hat jeden moralischen Kompass verloren. Und die das verleugnen sind die wahrhaft Verantwortlichen dieses Zustandes.Wann wachen wir endlich auf und entledigen uns dieser menschlichen Schlacken.

  17. Auch wenn ich es selbst nicht mehr missen möchte, aber das Internet hat in den letzten zehn, 15 Jahren wohl so manchen schlafenden Hund geweckt.

    Konsolenspiele und das Privatfernsehen dürften im gleichen Atemzug genannt werden.

    Besonders auffallend ist, dass es bei vielen Jugendlichen immer mehr an den Basics mangelt – vor allem bei solchen, von denen man eigentlich ein ganz anderes Niveau und einen einen anderen Bildungsstand erwarten sollte (Gymnasiasten, Studenten).

    Nicht zurückgrüßen obwohl man laut und deutlich angesprochen wird, den Abfall und die Kippen zwei Meter neben den Mülleimer werfen, sein Auto quer über den Parkplatz stellen obwohl die Linien genau eingezeichnet sind usw. usf. Hinzu kommen Beleidigungen, die möglichst entwürdigend sein müssen und ein allgemeines Interesse, das von Partys und Saufen über Fratzenbuch bis hin zum nächsten Friseurbesuch und dem Klamotten-Shoppen bei einer schwedischen Low Price-Marke reicht. Das alles wäre als tatsächliche Einzelfälle nicht weiter schlimm. Wenn sowas aber gefühlte 100x pro Tag passiert, dann muss man sich schon fragen, was in den letzten Jahre so alles schief gelaufen ist..?

  18. Wozu überhaupt Bildung?
    Du kannst immerhin völlig ohne berufliche Bildungsabschlüsse in Deutschland Außenminister oder Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages werden!
    Wie die Beispiele von Joschka Fischer und Claudia Roth eindeutig belegen!

  19. Das soll
    so sein; denn
    sonst wäre es nicht so.
    Die Trickser sind nun mal am
    Drücker und die Politiker führen nur
    aus. Nein, Deutschland schafft sich
    nicht ab – Deutschland wird
    abgeschafft. Und das
    vertraute Europa
    der Völker
    gleich
    mit

  20. Der Verfall von Moral, Sitte, Kultur, Ethik und Identität, ist der Untergang einer Gesellschaft und Zivilisation.

    Dafür gibt es genügend Beispiele in der Geschichte!

    Unsere Verantwortlichen Unverantwortlichen, sägen an ihren eigenen Stühlen.

  21. Die Moral wurde durch den Moralismus der Linken und Grünen ersetzt.

    Die Moral ist nicht verschwunden; nur ist leider kaum noch jemand in der Lage sich unter MORAL etwas vorstellen zu können.

    Was verfällt, sind die guten Sitten. Wir befinden uns in einer dekandenten Phase unserer Gewchichte, wobei ich nicht zu sagen vermag, ob wir das Maximum schon erreicht haben. So wie es aussieht, noch nicht.

  22. OT: aus dem newsletter von teltarif.de

    ARD-Chef denkt ueber Anpassung des Rundfunkbeitrags nach

    … Abwanderung junger Fernsehzuschauer zu den Unterhaltungsangeboten aus dem
    Internet. Besonderen Fokus legt er hierbei auf Netflix. Marmor glaubt jedoch nicht, dass der Start des US-Streaming-Anbieters
    sowie seiner Konkurrenten zu einer Veraenderung der deutschen

    Interview mit Lutz Marmor
    … wo der ARD-Vorsitzende die Staerken der oeffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sieht und ueber welche Gebuehrenanpassungen er
    nachdenkt.

    http://www.teltarif.de/n802/s/s57154.html

  23. #23 eule54

    … oder als pseudowissenschaftliche Betrügerin – nunmehr ebenfalls ohne Studienabschluß – Professorin und Gesandte beim Vatikan.

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