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Geschmacksmacht I: Warum Akif Pirinçci so wichtig wie Sarrazin ist

[1]Manche wundern sich, wie man Akif Pirinçci in einem Atemzug mit Thilo Sarrazin nennen kann. Aber Sarazzin hat Pirinçcis Wutbuch Deutschland von Sinnen [2] geradezu vorhergesagt. Denn „die Regeln der politischen Korrektheit haben einen gleitenden Übergang zu Regeln des Anstands und des gesellschaftlich akzeptierten Benehmens“, wie er im Tugendterror [3]schreibt. „Zum Wesen eines gesellschaftlichen Codes scheint es zu gehören, dass er rational nicht mehr hinterfragt wird, sondern verinnerlicht und emotional kollektiv verankert ist.“

(Von Peter M. Messer)

Dann aber reichen rationale Argumentationen nach Sarrazins Art nicht aus, weil verinnerlichte Regeln des „Anstands“, des Benehmens und des Geschmacks davon gar nicht mehr erreicht werden können. Man muss nicht gegen sie argumentieren, man muss gegen sie verstoßen. Der Wert von Pirinçcis Buch läge dann vor allem in seinem den „guten Geschmack“ verletzenden Stil. Tatsächlich sind Geschmacks- und Stilfragen Ursachen linker Macht und konservativer Ohnmacht, die bisher viel zu wenig beachtet worden sind.

Geschmack, Gesellschaft, Macht und Habitus

Mit seiner politischen Deutung von Anstands- und Geschmacksregeln steht Sarrazin auf einem soliden, gerade von Linken akzeptierten soziologischen Fundament. Geschmack ist ein Urteilsvermögen, das ohne begriffliche Begründungen, Regeln oder formale Verfahren auskommt. Ob wir etwas schön oder hässlich finden oder warum das Einstecktuch nicht dasselbe Muster wie die Krawatte haben darf, das können wir nur schwer oder gar nicht begründen. Der Geschmack „entfaltet“ sich aber nicht einfach im Inneren einer Person, sondern wird erlernt durch Übung, die Beobachtung anderer und ihrer Reaktionen auf das eigene Verhalten. Der Geschmack ist das, was man in der Soziologie mit Norbert Elias und Pierre Bourdieu einen Habitus nennt: eine Menge von Voreinstellungen und Bereitschaften des Denkens, Fühlens und Handeln, die man beim Aufwachsen in einer Gesellschaft in sich aufnimmt, bis sie zum unbewussten Bestandteil der eigenen Persönlichkeit werden: ungefähr so, wie man Fahrradfahren lernt.

Die fehlende Begrifflichkeit und die Spontaneität des geschmacklichen Urteils bedeuten, dass ich seine gesellschaftlichen (Mit)Ursprünge vergesse und damit auch den Unterordnungsprozess, durch den ich meinen Geschmack erworben habe. Stattdessen sehe ich ihn als Ausdruck meiner selbst an. Gleichzeitig ist ein „guter Geschmack“ Zeichen einer erfolgreichen Eingliederung in ein Milieu. Im ästhetischen Subjekt, so der Philosoph Christoph Menke, erfüllt sich das Ziel der Gesellschaft, die in der Disziplinierung liegende Fremdbestimmung „in der autonomen Selbstdisziplinierung von Subjekten zum Verschwinden zu bringen.“ In der Betätigung seines Geschmacks feiert der Einzelne die erfolgreiche Umwandlung von Fremdbeherrschung in Selbstbeherrschung und die Tiefenintegration in sein Umfeld. Als Art des Urteilens ist die berüchtigte Buntheit damit durchaus ein bestimmter Geschmack: Man lehnt nichts ab, grenzt nichts aus, begegnet allem offen und mit freundlichem Interesse – außer der eigenen Tradition, weil ein Bekenntnis zu ihr einen Mangel an Offenheit und Erstarrung bedeuten könnte.

Ich bin also ausgerechnet in den scheinbar persönlichen Dingen des Geschmacks tief von der Gesellschaft geprägt. Eben deshalb stützt sich der Mainstream zur Verteidigung seiner Macht so oft auf Äußerlichkeiten: Die pseudokonservative Meinungsmine Jan Fleischhauer [4] nutzte für seine Diffamierung der Sarrazin-Anhänger vor allem Fragen des Aussehens und Benehmens, als er sie als erregten Angestelltenpöbel im Tweedjacket schilderte. Dirk Kurbjuweit schlug in seinem legendären Essay über den Wutbürger, der sich ebenfalls zu großen Teilen mit Sarrazin-Anhängern befasste, in dieselbe Kerbe. Nicht Inhalte, sondern Formen disqualifizieren den Wutbürger, seine Erregung, Enthemmung, Zorn. Nicht dass der Rechte böse ist, ist entscheidend, sondern dass er hässlich ist, und diese Hässlichkeit wurzelt in seiner Hemmungslosigkeit. Auch der beliebteste aller Kampfbegriffe, Populismus, lebt nicht von politischen Inhalten, sondern vom Bild des enthemmten Pöbels.

Diese Strategie ist so erfolgreich, weil sie damit in den Nasenring des bürgerlich-konservativen Habitus einhakt. Denn der kreist ständig um Selbstbeherrschung, „Maß und Mitte“ – und zwar als Selbstzweck, ohne Abhängigkeit vom Kontext, wodurch sie als unbedingtes Formgebot sichtbar werden. Der konservative FAZ-Feuilletionist Lorenz Jäger, der übrigens keinesfalls immer lau badet, beendete seinen Abschied von den Rechten [5] mit dem Satz, dass ein Gespür für das Gewicht der Dinge die Pflicht zur Mäßigung bedeute. Also auch, wenn mich das Gewicht der Dinge erdrückt? Wer das Gewicht der herrschenden Verhältnisse wirklich spürt, der empfindet es als erstickende Last, gegen die man um des eigenen Lebens willen rebellieren muss. Aber das darf man nicht, weil man dann wütend wirkt, und das darf ein anständiger Bürger auf gar keinen Fall, selbst wenn die eigene Welt verbrennt. Der bürgerliche Habitus ist ganz auf Selbstbeschränkung und Unterwerfung ausgerichtet: man wird nicht emotional, man nimmt sich zurück, man bleibt immer mittig, man ordnet sich dem Recht unter und den Wünschen des Kunden. Im Wirtschaftsleben mag das erfolgversprechend sein, in der Politik führt es nachweislich zur Katastrophe. Hier wird aus Bürgerstil ein Stil für Sklaven.

Politische Handlungsfähigkeit und kulturelle Produktivität

Ich will die Verursachung der konservativen Ohnmacht durch den konservativen Habitus nicht mit Einzelfällen belegen, weil dies nur alte Streitereien aufwärmen würde und mir ein viel fundamentalerer Beweis möglich sein muss: Wenn der Habitus die politische Handlungsfähigkeit bestimmt, dann müssten den Konservativen zum Ausdruck ihrer politischen Überzeugungen und zur Darstellung ihrer Situation alle kulturellen Felder verschlossen sein, die jenseits der rationalen Reflektion liegen und die eine dem Geschmacksurteil unterliegende ästhetische Gestaltung erfordern.

Betrachten wir also die Verteilung rational-argumentativer politischer Aktivität (von der Parteiarbeit bis zu Theorie- und Sachtexten) und kulturellen politischen Äußerungsformen, also die Gestaltung politischer Inhalte durch Erzählung, Kabarett, Musik, Bild, alles Visuelle von Bild und Film bis Graphikdesign usw. Beim Mainstream der Linken, Euromanen und Globalisten haben wir einen Gleichlauf dieser Aktivitätsformen. In der kulturellen Produktion werden nicht nur diffuse „Werte“, sondern konkrete politische Konfliktlagen gestaltet. Auch findet sich die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen von Liebe bis Hass wieder. Das war auch schon so, bevor sie ihre heutige Machtstellung erreichten. Um mit ihnen gleichzuziehen, müssten rechts von dieser „Mitte“ neben Sachtexten wie Sarrazin auch Romane über Ausländergewalt und Justizversagen wie Pascal Ormunait [6] oder Dystopien wie Von kommenden Stürmen [7] in den Bestsellerlisten stehen. Aber das tun sie nicht. Die Konservativen sind im kulturellen Bereich ein Totalausfall. Das gilt selbst, wenn man Autoren einbezieht, die wolkige „konservative Werte“ vertreten, aber eben nie konkrete politische und gesellschaftliche Konfliktlagen thematisieren (und im Ernstfall gerne an der Seite der Muslime stehen). Und die einzig bisher tatsächlich erfolgreiche Partei trägt den Habitusverstoß im Namen: Bürger in Wut. Götz Kubitschek, der Herausgeber der Sezession, beklagt, dass es keine zeitgenössische rechte Belletristik gäbe („Der Rechte liest nicht“) [8], und versucht mit der Edition Nordost gegenzusteuern. Erst bei den Rechtsextremen kommt wieder Leben in die Bude: Es gibt Skin- und andere rechte Musik, NS-Nostalgieliteratur – und eine Partei, die in zwei Landtagen sitzt und deren Mobilisierungsfähigkeit bei Demonstrationen trotz geringer Basis in absoluten Zahlen von bürgerlichen Protestbewegungen bisher fast nie erreicht wurde. Aufschlussreich ist, dass bei linken wie rechten Extremisten die Musik und alles Visuelle den kulturellen Schwerpunkt zu bilden scheinen: sie erlauben den unmittelbarsten emotionalen Ausdruck und eine körperliche Aneignung (Tanzen zur Musik, Kleidung, Tätowierungen).

Wir finden also einen exakten Gleichlauf zwischen kultureller Produktivität und politischer Handlungsfähigkeit vor, mit einer klaffenden Lücke von den „Bürgerlichen“ bis zu den nicht extremen Rechten.

Das ist kein Wunder. Denn mit dem Schritt aus dem Ideologischen und Rationalen begebe ich mich in den Bereich des Habitus mit seinen Emotionen und unbewussten Voreinstellungen. Nur so kann ich mich mit einer Romanfigur identifizieren oder eine Figur erschaffen, die zur Identifikation einlädt. Das ist einem konservativ-bürgerlichen Habitus aber unmöglich, weil er, in die heutige Wirklichkeit gestellt, entweder in Verzweiflung untergehen oder sich Gebiete wie Aggressivität, Wut und Gewaltbereitschaft erschließen müsste, die mit diesem auf Selbstbeschränkung ausgerichtetem Habitus unvereinbar sind. Man kann sich hier nicht mit einer abnehmenden Lesebereitschaft herausreden. Denn es gibt einen breiten Markt für Komik und Comedy, auf dem Konservative auch nicht in Erscheinung treten [9]. Das fußt ebenfalls auf diesem (man kann es leider nicht anderes sagen) verkrüppelten Habitus, denn der Witz erfordert den Zugang zu verdrängten Wünschen und Aggressionen, der vom bürgerlichen Habitus blockiert wird. Man bilde doch einmal das linke Kabarett von rechts nach: da gäbe es nicht nur Witze über Gutmenschen. Sondern auch über Flüchtlinge, Migranten und den Islam. Wie geschmacklos! Man braucht nur an die Positionierung vieler Konservativer zu den Mohammedkarikaturen zu erinnern, um zu erkennen, dass ein konservatives Kabarett weiterhin undenkbar ist.

Kein Wunder ist dagegen, dass es zumindest Musik gegen den linken Mainstream gibt. Denn diese Musikformen (Punk, Rap [10] und der aus dem Heavy Metal entstandene Black Metal) haben ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse oder Unterschichten und werden v. a. von jungen Menschen produziert und konsumiert, deren Sozialisation und damit Einbindung in den bürgerlichen Habitus noch nicht abgeschlossen ist.

Das sind keine Kleinigkeiten. Literatur und Musik sind wesentliche Hervorbringungen von Kultur und Identität. Ihr Fehlen zeigt einen massiven Mangel an Lebensfähigkeit in einer sozialen Gruppe an. Liebe Konservative, liebe edelrechten Edeldenker: Das, was ihr schreibt, das kann man schreiben. Aber man kann es nicht leben. Und darum kann man es auch nicht erzählen. Ihr wollt das Abendland retten und bringt noch nicht mal einen Witz zustande. Ihr seid kulturell tot, nach euren eigenen Kriterien. Ihr funktioniert noch ökonomisch und betätigt mechanisch euren bürgerlichen Habitus, aber ihr lasst euch wehrlos aussaugen, weil euer Wollen und Fühlen längst in die Hände der Linken und Globalisten übergegangen ist. Ihr seid richtige Zombies, denn die sind in ihrem karibischen Ursprung von den Toten künstlich auferweckte, fügsame Arbeitssklaven, und es ist euer Habitus, der euch zu Zombies gemacht hat. Wer ins Leben zurück will, muss mit diesem Habitus brechen. Pirinçcis Sprache hat da genau die richtige Schlagkraft. So richtig deutlich wird das werden, wenn wir uns im nächsten Teil den Umgang der Linken und des Mainstreams mit Geschmacksfragen ansehen werden.

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Meinungsminen: Das Jan-Fleischhauer-Prinzip

geschrieben von PI am in Altmedien,Deutschland | 81 Kommentare

Die Politcal Correctness bastelt sich gerade eine neue Waffe: die Leugnung ihrer Existenz. Ganz vorne kämpft dabei Jan Fleischhauer. Er hat wegen des neuen Sarrazin-Buches über Denkverbote in seinem Schwarzen Kanal [11] etwas wiederholt, das er breiter in einem von PI verlinkten Interview [12] ausgeführt hatte: der Fall Sarrazin sei als Beweis gegen die Existenz von Political Correctness zu sehen. Er sei schließlich in jeder Talkshow gewesen und habe 1,5 Mio. Bücher verkauft. Von Fleischhauer anscheinend unbemerkt hatte Sarrazin aber auch sein Amt verloren, was einen gewissen Abschreckungseffekt für jene haben dürfte, die den Jobverlust nicht durch den Verkauf von Bestsellern ausgleichen können. Aber nicht um den Fall Sarrazin soll es hier gehen, sondern um Fleischhauers Rolle in der Sarrazin-Debatte, in der er das Konzept des Migranten als höherwertigem Plus-Deutschen miterfand und ein Beispiel für einen besonders perfiden Schutzmechanismus der Blockparteienrepublik lieferte, den klassische totalitäre Regime nicht kannten: die Meinungsmine.

(Von Peter M. Messer)

Unter Meinungsminen sind Prominente zu verstehen, die laut gegen die herrschenden Meinungen verstoßen und darum die Anhänglichkeit unterdrückter Meinungsträger gewinnen, die aber garantiert dann zum herrschenden Konsens zurückkehren, wenn er wirklich ernsthaft gefährdet wird. Der Widerspruch ihres tatsächlichem zu ihrem erwarteten Verhalten ist eine Explosion, die ihre Fans verwirrt und sie den positiven Rückkopplungsprozessen der Meinungsveränderung entzieht. Das zeigt Fleischhauer eigenes Verhalten in der Sarrrazin-Debatte. Fleischhauer hatte in seinem Bestseller „Unter Linken“ auch die Erscheinungen kritisiert, um die es Sarrazin ging. Er hatte von deutschenfeindlicher Gewalt geschrieben oder davon, dass viele Einwanderer für den deutschen Staat trotz der von ihm gespendeten Wohltaten nur Verachtung empfinden. Als dann aber Sarrazins Buch erschien, wechselte er auf die andere Seite.

Er tat das mit zwei Artikeln im SPIEGEL, an deren Ende er mit den Worten „Es reicht!“ die Sarrazin-Debatte einfach für beendet erklärte. Anstatt also von seiner Position in der veröffentlichten Meinung die Debatte weiter anzuheizen und Druck hin zu entsprechenden politischen Veränderungen aufzubauen, bremste er diese Dynamik ab und fing jene Leser ein, die von ihm etwas ganz anderes erwartet hatten. Die Meinungsmine Jan Fleischhauer zündete genau dann, als es ernst wurde. An seinen beiden Artikeln lassen sich die Funktionsweise von Meinungsminen und ihre eigentlichen Kraftquellen gut offenlegen.

Zahnärztinnen und Gangsta-Schulabbrecher

Beginnen wir mit dem Artikel „In die Falle getappt“ [13] im SPIEGEL vom 20.09.2010. Schritt 1: Fleischhauer stellt eine türkische Zahnmedizinstudentin vor, die sich durch die Sarrazin-Debatte wieder mehr als Türkin fühle und Gemeinsamkeiten mit Kopftuchmädchen entdecke. Beabsichtige Leserreaktion: „Aber die haben wir doch nicht gemeint!“ Schritt 2: Fleischhauer schildert die Opfermentalität von Minderheiten, die jedes Missgeschick der feindlichen Umwelt zuschrieben. Das sei weltweit zu beobachten, besonders aber bei Muslimen als den am leichtesten beleidigten Menschen überhaupt. Das stärkt die Bindung des Lesers an Fleischhauer: „Der ist aber mutig!“ Schritt 3: Fleischhauer beschreibt die Besucher einer Sarrazin-Lesung als „einen adrett zurechtgemachten, nach Rasierwasser und Eau de Toilette riechenden Mob, ein Angestelltenpöbel, den es kaum auf den Stühlen hielt, sobald die Rede auf „die Politk“, „die Medien“ und „die Ausländer“ kam, und der zischend, johlend und klatschend seiner Aggression freien Lauf ließ.“ Oh Gott!, denkt da der bürgerliche Leser, laut und aggressiv will er auf keinen Fall sein, davon distanziert er sich – und merkt gar nicht, dass es hier nicht um die Richtigkeit von Sarrazins Thesen geht, sondern dass er hier am Nasenring seines Selbstbildes gepackt wird. Schritt 4: Man müsse sich einfach danach richten, dass Vorzeigetürken wie die Zahnärztin eben das Land verlassen könnten, „man kann ihr tausendmal sagen, dass sie nicht gemeint sei, sie fühlt sich trotzdem angesprochen.“ Die muslimische Beleidigungsbereitschaft behält also doch die Oberhand. Fleischhauers Kritik an ihr führt nicht dazu, dass die Muslime sich anpassen sollen, sondern wir. Deutscher halt’s Maul! Für unsere Zahnärztin habe ich eben den gewalttätigen Gangsta-Schulabbrecher und Graue Wölfe hinzunehmen. Eine Bilanz, ob man bei diesen Kosten sich seine Zahnärzte nicht lieber anders sichern sollte, macht Fleischhauer natürlich nicht auf. Wer sich von Fleischhauer hat einlullen lassen, steht handlungsunfähig da.

Und wo zündet die Meinungsmine? „Wenn sich ein Buchautor eine gesellschaftliche Gruppe vornimmt, das ist eine Sache, wenn sich eine größere Menge anschließt, eine ganz andere. Mit Bürgerlichkeit hat das nichts mehr zu tun“ – die Mine zündet exakt dann, wenn ein Buch politische Wirkung zeigt, wenn Menschen nicht mehr passive Leser bleiben, wenn etwas ins Rollen kommen könnte und wenn man diese Menge nicht mehr führen kann. Dann will der Minenprominente von seinen früheren Äußerungen nichts mehr wissen, auch nicht von der Meinungsfreiheit: „Was wird hier eingeklagt: Die Freiheit, unbequeme Wahrheiten auszusprechen? Oder die Freiheit, endlich das herauszuplärren, was man lange nicht sagen durfte, weil es auch gute Gründe für ein Tabu geben kann.“ Welche Freiheit hier nun im Streit steht, welches Tabu verletzt wurde und ob es für dieses Tabu gute Gründe gibt – dazu sagt Fleischhauer nichts.

Die Infragestellung der Meinungsfreiheit ist der Kipp-Punkt des Artikels, weil hier der Wechsel der Argumentation eingeleitet wird. Sie entspricht der Schocktechnik in der Selbstverteidigung, mit der man die Befreiung aus dem Griff des Gegners einleitet. Vor ihr ist der Text faktenbasiert und rational. Die Beschwörung der Tabuverletzung löst den Leser nun aus der konkreten Problembetrachtung – irgendein Tabu werden die meisten befürworten – verhindert aber durch ihre Formulierung als Frage die präzise Diskussion eines bestimmten Tabus. Der seiner Standfestigkeit beraubte Leser wird danach mit einer rein emotionalen Argumentation konfrontiert: die Hässlichkeit und mangelnde Selbstkontrolle der Sarrazin-Zuhörer, deren Darstellung als enthemmter „Angestelltenpöbel“ an urbürgerliche Reflexe appelliert: der Abgrenzung gegen den zügellosen Pöbel und die Angst vor der revoltierenden Masse.

Fleischhauer und die Erfindung der Plus-Deutschen

In seinem Kommentar „Es reicht!“ [14] im SPIEGEL vom 18.10.2010 verlangte Fleischhauer ein Ende der Debatte, weil man die von Sarrazin beschriebenen Problemgruppen sowieso nicht mehr loswerde und im Übrigen von der Zuwanderung profitiert habe, „das in Abrede zu stellen wäre töricht.“ Diese sei „ein exzellentes Tonikum gegen die Kreislaufschwäche der Sitzenbleiberkultur“ und habe „uns weltläufiger gemacht und duldsamer gegenüber anderen Lebensweisen und damit das Land (…) frühzeitig auf die Globalisierung vorbereitet.“ Einen Beweis dafür bleibt Fleischhauer natürlich schuldig. Der aktuelle Blick auf die Zeit vor dem ersten Weltkrieg hat ins Bewusstsein gerückt, welch hohes Maß an Globalisierung damals schon bestand, ohne dass der deutsche Erfolg darin einer Einwanderung migrantischer Erleuchter über globale Bedürfnisse zu verdanken gewesen wäre. Und heute agieren asiatische Länder wie Südkorea, Japan und China in der globalen Wirtschaft höchst erfolgreich ohne solche „Mithilfe.“ Vor allem vertritt Fleischhauer hier das Konzept des Migranten als „Plus-Deutschen,“ bevor der Begriff geboren war: Auch für ihn ist der eingeborene Deutsche ein minderwertiger „Sitzenbleiber,“ der zur Entwicklung dieses Landes nichts mehr beizutragen hat, welches darum auf Migranten zur Bereicherung angewiesen ist, die dann notwendig wertvoller als der Ureinwohner sein müssen. Wenn Konservative einen solchen Typen immer noch als einen der Ihren ansehen, dann ist es kein Wunder, dass sie immer verlieren.

Im auf PI verlinkten Interview auf novo argumento setzte Fleischhauer sein Wirken als Meinungsmine mit neuen Mitteln fort. Er leugnet nicht nur die Existenz der PC. Er sieht schon den Hinweis auf Meinungsdruck als Ausweis persönlichen Scheiterns: Wer die Unterdrückungsmaßnahmen der Herrschenden beklagt, der ist nur zu unfähig, sich Gehör zu verschaffen. Auf die Berechtigung der Anklagen kommt es gar nicht an. Wer trotzdem die zahlreichen Sprachverbote aufzeigt, dem entgegnet Fleischhauer, dass dies ein auf die akademischen Schichten begrenztes Phänomen sei und die „einfachen Menschen“ gar nicht erreiche. Wenn ich dagegen eine überwältigende soziologische, philosophische und psychologische Literatur anführe, die zeigt, wie sehr Sprache Denken und Handeln beeinflusst, dann sind das für Fleischhauer die Hirngespinste von Geisteswissenschaftlern. Die tatsächliche politische Entwicklung beweist täglich das Gegenteil. Fleischhauer hat hier eine Zwickmühle aufgebaut, aus der es kein Entkommen gibt.

Wieder bezieht die Meinungsmine ihre Kraft aus bürgerlich-konservativen Vorurteilen: Die angebliche Irrelevanz von Meinungsdruck zielt auf die Vorstellung, dass man von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als anständiger Bürger nicht abhängig sei. Das ist natürlich die beste Methode, um die anständigen Bürgerchen daran zu hindern, sich gegen ihre immer weitergehende Einschränkung und Ausbeutung durch die gesellschaftlichen Bedingungen zu wehren. Fleischhauers Antiintellektualismus bedient die beliebte Idee von Soziologie u. a. Geisteswissenschaften als Spinnkram in einer Schicht, die sich tagtäglich außerstande zeigt, die eigene Situation zu begreifen und zu verändern.

Es bleibt Fleischhauers Geheimnis, welche Handlungsmöglichkeiten dem „Mann auf der Straße“ bleiben, wenn die Sprache in Politik, Recht, Bildungssystem und veröffentlichter Meinung bestimmte Gedanken ausgrenzt. Es muss in diesen Institutionen stumm bleiben. Der Untertan kann nicht sprechen. Es sei denn, wir begegnen einem alten Bekannten: dem edlen Intellektuellen, der sich für den missachteten Kleinbürger einsetzt. So wie die 68er ihren Selbstwert aus dem Wahn bezogen, die Arbeiterklasse warte darauf, von ihnen befreit zu werden, so darf nun der Kleinbürger zu Jan Fleischhauer mit leuchtenden Augen als rettendem Ritter aufschauen – und fleißig seine Bücher kaufen. Fleischhauer ist seinen linksbürgerlichen 68er-Wurzeln treu geblieben. Er hat nur den Arbeiter durch den Kleinbürger ersetzt.

Klassische totalitäre Systeme unterdrückten Meinungen vollständig, weil sie von einer Verkettung von Sprechen und Handeln ausgingen: einen Missstand zu nennen bedeutete auch, sich gegen seine Ursachen in Gestalt von Personen und Ideologien zu wenden. Meinungsminen zerstören diese Verkettung: der Bürger lernt, nicht darauf zu vertrauen, dass wer A sagt, auch B sagen wird. Er lernt, dass man im echten Konflikt nicht auf seine Unterstützung rechnen kann. Meinungsminen verhindern weiter, dass man sich aus dem Verblendungszusammenhang der Mainstreammedien löst und den Sprung in eine echte Gegenöffentlichkeit tut: die teilweise Unterdrückung von Meinungen, die noch Meinungsminen zulässt, ist so wirkungsvoller als die totale.

Das Faszinierende an Fleischhauers Strategie ist, dass sie nicht auf einer Ideologie und nicht mal auf der Nazikeule basiert, sondern auf dem Appell an das bürgerliche Selbstbild, an Emotionen und den „Guten Geschmack.“ Wie ungeheuer erfolgversprechend das ist, zeigt die Karriere des von Dirk Kurbjuweit geprägten Begriffes „Wutbürger“ [15]. Dieser abwertende Kampfbegriff wurde von der JUNGEN FREIHEIT und selbst PI übernommen – obwohl Kurbjuweit ihn wesentlich anhand der Schilderung von Sarrazin-Anhängern entwickelt hatte.

Die eigentliche Kraftquelle der Meinungsminen ist unsere Eitelkeit, unser perverser Wunsch, nie laut, wütend oder grob zu sein und niemandem ein Leid zu tun, auch wenn wir dazu allen Anlass hätten. Aber der Kampf um die Verteidigung des Eigenen in jeder Form, finanziell, politisch, kulturell oder sozial, ist Kampf, ist Dreck und Härte, bei dem ich mir selbst wichtiger sein muss als der Andere. Das muss ich verinnerlichen, dazu muss ich mich formen, das muss ich begrüßen. Bürgerliche Konservative aber wollen von denen, gegen die sie sich abgrenzen, auch noch geliebt werden. Sie sind wie rhythmische Sportgymnasten, die meinen, in den Thaibox-Ring steigen zu können – und da nicht lange oben bleiben. Wer den Meinungsminen widerstehen will, der muss sich von diesem Selbstbetrug befreien.

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