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In der FAZ hat Regina Mönch wieder einmal einen erstklassigen Artikel zum Zustand der Parallelgesellschaft in Deutschland und das Versagen des Staates schon auf unterster Ebene geschrieben. Da er online nur gegen Entgeld zur Verfügung [2] steht, veröffentlichen wir ihn ganz.
Text: F.A.Z., 29.10.2009, Nr. 251 / Seite 33
Faktencheck Parallelgesellschaft
Neuköllner Lokaltermin bei den Abgeschriebenen: Nichterziehung, Prügel und Gleichgültigkeit in einem Berliner Erziehungsmilieu
Der Entrüstungsrausch um Thilo Sarrazins Interview über desintegrierte türkische und arabische Familien ist ernüchtertem Desinteresse gewichen. Abenteuerliche Vergleiche tauchen nun auf, um das grelle Licht abzumildern, mit dem für eine kurze Zeit die abgeschottete Lebenswelt eines Teils der Migranten ausgeleuchtet wurde. So empfiehlt die „Zeit“ nun als Gegengift die „guten Nachrichten“, die man einer, wie es heißt, noch unveröffentlichten Studie des „Zentrums für Türkeistudien“ entnehmen könne.
Danach verfügen, nach eigener Einschätzung, fast drei Viertel der deutsch-türkischen Jugendlichen über gute Deutschkenntnisse, und drei Viertel der Eltern streben für ihre Kinder das Gymnasium an. Diese Ambitionen, so die „Zeit“ nebulös, kollidierten leider oft mit der Unkenntnis des deutschen Schulsystems. Nur eine Minderheit isoliere sich bewusst von deutschen Einflüssen, nach Angaben des Institutes gerade mal zwei Prozent. Wer das anders erlebt, als Lehrer, Richter, Polizist oder Fürsorger, ist wohl selber schuld.
Es war ein Zufall, dass Arnold Mengelkoch an diesem Novembermorgen mit anderen auf die nächste U-Bahn wartete. Auf dem Bahnsteig waren ein schmächtiger Fünfzehnjähriger und ein Erwachsener in Streit geraten. Als der kräftige Erwachsene den Arm hebt und dem Jungen die Faust mit voller Wucht ins Gesicht schlägt, greift Mengelkoch ein. Fünfzig Menschen schauen dabei gleichmütig zu oder weg, und der Vorfall wäre wahrscheinlich rasch vergessen worden. Aber Mengelkoch ist Migrationsbeauftragter des Berliner Bezirks Neukölln und hat viele Jahre als Jugendfürsorger gearbeitet; er ahnt, was hier, wieder einmal, geschehen ist. Mengelkoch stellt den ob der Einmischung empörten Mann, den Vater des Jungen, vor die Wahl, sich selbst anzuzeigen, sonst täte er es.
Es dauert fast ein Jahr, bis der türkische Vater vor dem Amtsgericht steht, wieder einmal, wie sich dort herausstellen soll. Ein Jahr zuvor war er bereits wegen eines ähnlichen, noch brutaleren Deliktes zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden: Er hatte seine geschiedene Frau, bei der die gemeinsamen Söhne leben, mit kochendem Wasser schwer verbrüht. Gemeinsam mit ihrem Sohn, der am ersten Verhandlungstag nicht erscheinen konnte, weil er noch eine Arreststrafe verbüßte, sagte die Ex-Ehefrau schließlich gegen den Vater aus. Das ist ungewöhnlich und in diesem Fall dem Zeugen und seiner eindeutigen Aussage zu verdanken. In aller Regel wird in solchen Fällen vor Gericht geschwiegen oder aus Angst gelogen.
Der Faustschlag auf dem Neuköllner U-Bahnsteig soll nach Aussage des Jungen die Ausnahme gewesen sein, die Mutter schildert es anders. In diesem Land bekämen nur Frauen recht, sagt verbittert der Mann. Aber er kommt noch einmal davon, mit einer Geldstrafe, trotz Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen. Dass zwei kleine Töchter bei diesem gewalttätigen Vater leben und vor allem, wie, spielt keine Rolle, nirgendwo. Sein geprügelter Sohn aber gilt als fast schon verloren, stand bereits mehrmals vor Gericht. Ein exemplarischer Fall auch er: Gewalt als alltägliche Erfahrung von klein auf, jetzt teilt er selbst aus. Die Delikte häufen sich in immer kürzeren Abständen, werden immer gefährlicher. Die Schule besucht er offenbar kaum. So etwa zwei Jahre habe er geschwänzt, seit er das erste Mal von einer Schule flog, sagt er dem Richter bereitwillig. Eine andere Schule habe ihn nicht haben wollen. Der Vater ruft entrüstet: Ja, so sei das hier!
Natürlich stimmt das nicht. Eine Schule darf einen Schüler nur an eine andere Schule verweisen. Aber offenbar ist er dort nie angekommen, und keinem Berliner Schulamt ist das aufgefallen, und wenn doch, hat es wieder einmal keine Sanktionen nach sich gezogen, dass Eltern wie diese die Schulpflicht einfach ignorieren. Immer noch wird massives Schwänzen bagatellisiert von den zuständigen Behörden, und die Berliner Richter, die den Skandal beim Namen nannten, weil ihre jugendliche Dauerkundschaft neben der kriminellen immer auch eine Schwänzkarriere absolviert hat, gelten als übereifrige Nestbeschmutzer. Sie hatten die Ruhe der Amtsstuben gestört, und obwohl niemand allen Ernstes dagegen sein kann, die Schulpflicht durchzusetzen, werden immer wieder Datenschutz und kleinkarierte Nichtzuständigkeit vorgeschoben.
Die Beschwörungsrituale vom möglichst frühen Eingreifen, bevor harte Gefängnisstrafen ein Leben im Abseits festschreiben, klingen vor diesem Hintergrund noch absurder. Diese früh Gescheiterten füllen Woche für Woche die Gerichtsflure in Berlin-Moabit, es werden immer mehr, und die überwältigende Mehrheit sind türkische und arabische Jungen.
Hießen die Kinder Kevin oder Robin, vielleicht wäre die Chance um einiges größer, dass das Jugendamt früh und nicht nur zufällig von ihrem Martyrium und den Fehlstunden erfährt. Seit der Debatte um Kindesmisshandlung und Verwahrlosung hat sich einiges geändert. Doch die Prügelstrafen, denen Kinder aus der türkischen und arabischen Unterschicht ausgesetzt sind, bleiben weiter ein offenes Geheimnis. Es gibt keine Nachbarn, die das für Unrecht hielten, und aus den Familien dringt nur, wie in jenem Faustschläger-Fall, zufällig etwas an die Öffentlichkeit.
In Berlin-Neukölln ist man sich dieser Widersprüche durchaus bewusst: Der Migrationsbeirat des Berliner Stadtbezirks hat jetzt überall vielsprachige Plakate aufhängen lassen, die das deutsche Grundgesetz zitieren und unübersehbar über das Diskriminierungsverbot, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und die Erziehungspflichten von Eltern aufklären. Man macht sich keine Illusionen über die Reichweite der ungewöhnlichen Aktion, aber sie soll, das ist die Hoffnung, dazu ermutigen, auf diesen nur vermeintlich selbstverständlichen Rechten zu bestehen.
Dass die Polizei in bestimmte Viertel dieser Parallelwelt, nicht nur in Berlin-Neukölln, nur noch in Mannschaftsstärke einrückt, gehört inzwischen schon zum Allgemeinwissen. Die Forderung nach Polizeischutz für Sozialarbeiter und Fürsorger, wenn sie dorthin zu Hausbesuchen gehen, gilt aber als stark überzogen, doch nötig hätten sie ihn oft. Denn jeder dieser Beamten weiß, was ihm blühen kann, wenn er an der Wohnungstür einer solchen Familie klingelt. Erst vor kurzem jagten ein arabischer Vater und sein ältester Sohn, die Messer in der Hand, einen Beamten quer durch Neukölln, über belebte Hauptstraßen. „Schnapp ihn dir!“, hatte der Vater dem Sohn befohlen. Der Beamte ist nicht der erste, der um sein Leben lief, weil er einem bedrängten Kind helfen wollte. Auch Lehrer und Erzieher werden angegriffen. Zeigen sie die Übergriffe an, sind sie nicht selten so lange Schikanen ihrer Schüler oder denen der aufgebrachten Väter und Onkels ausgesetzt, bis sie versuchen, die Anzeige zurückzuziehen.
Auch das gehört zur Kultur der Schönfärberei, die meint, Konflikte dieser Art ließen sich wegempören oder mit Integrationserfolgen aufrechnen. Der Ruf nach mehr Geld ist noch die bequemste Ausrede, zieht er doch nie eine präzise Analyse der Missstände und ihrer Ursachen nach sich. Natürlich sollten gerade Kinder aus diesem abgeschotteten Migrantenmilieu bereits einen Kindergarten besuchen, und gerade in Berlin-Neukölln bemüht man sich sehr darum. Doch zwingen kann man die Eltern dazu nicht, obwohl es sie, wenn sie von der Wohlfahrt leben, nichts kosten würde. Genauso wenig, wie man ihnen das Kindergeld sperren darf, wenn sie sich nicht um das Fortkommen ihrer Kinder bemühen. Das beziehen Eltern sogar noch, wenn ihre missratenen Söhne immer wieder im Gefängnis landen.
Zwei Drittel seines Haushaltes muss Berlin-Neukölln jetzt schon für Wohlfahrtsleistungen verplanen, zwanzig zusätzliche Millionen sind in soziale Projekte geflossen, über vierzig Millionen Euro jährlich bekommt allein dieser Berliner Bezirk für sogenannte „Hilfen zur Erziehung“ zugewiesen. Das wird für Familienhelfer, Sozialpädagogen, Therapien und anderes ausgegeben, und es reicht nie, weil es immer mehr Fälle gibt. Ein Jahresaufenthalt für einen dieser straffällig gewordenen Jungen in einem Heim, das ihn, weit entfernt vom brutalen Milieu seines Viertels, wieder auf den rechten Weg zu bringen versucht, kostet um die 45 000 Euro. Dagegen ist ein Platz im ersten Berliner Schwänzer-Internat fast preiswert (2400 Euro im Monat), aber davon brauchte man mindestens drei sofort.
Diesen Zuständen ist nur mit mehr Geld und wohlfeilen Schuldzuweisungen an Schulen, den Staat, die Politik oder Unruhestifter wie Sarrazin nicht beizukommen. Falsche Toleranz und eklatantes Desinteresse haben in Vierteln wie Berlin-Neukölln ein explosives Klima entstehen lassen, gefährliche Parallelwelten, in denen Tausende Kinder aufwachsen, deren Situation jener des verprügelten Sohnes gleichen. Sie haben keine Chance, da herauszukommen, solange man ihre Eltern schont.
(Spürnasen:: Christian F. und punctum)
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