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Der Kreidekreis des Tamada

Von YORCK TOMKYLE | Seit Stunden geht das nun schon so. Während der Fahrer den Wagen zielsicher in jedes Schlagloch steuert, schwitzend durch eine Serpentine nach der anderen kurbelt und uns immer wieder haarscharf an tiefen Schluchten entlang bugsiert, kann ich inzwischen nur mit Mühe die aufkommende Übelkeit unterdrücken.

Allerdings bietet es sich nicht wirklich an, in dieser Gesellschaft eine solche Schwäche zu zeigen und so beiße ich die Zähne zusammen und bedaure ein wenig, dass ich die majestätische Kulisse da draußen momentan nicht recht würdigen kann.

Ich bin zum ersten Mal in Georgien. Beruflich. Vor ein paar Tagen hat mein Gastgeber Besiki mich auf dem Flughafen in Tiflis abgeholt und scheut seitdem weder Kosten noch Mühen, um mir einen tiefen Einblick in die georgische Gastfreundschaft zu verschaffen.

Heute Morgen, als er mich grinsend in der Hotellobby begrüßte, sagte er beiläufig, dass er und zwei Freunde mich nun in zentrale Bereiche georgischer Willkommenskultur – hier wurde dieses Wort endlich einmal wieder seiner Bestimmung gemäß verwendet – einführen würden.

Im Wagen dann zwei weitere grinsende Gesichter nebst Fahrer (der, wie später klar wurde, aus guten Gründen dabei war).

Kurz nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen hatten erblickte ich eine langgestreckte Kette riesiger schneebedeckter Berge am Horizont – der Kaukasus. Unser Ziel lag, wie ich dann erfuhr, am Fuße der Berge: ein Freund von Besiki ist Besitzer eines Weingutes und freut sich, uns seine Weine präsentieren zu dürfen.

Die Aussicht auf einen wunderbaren Tag lockert die Zungen der Freunde. Mit glänzenden Augen erzählen sie von der sechstausendjährigen Geschichte des Weinanbaus in Georgien und der Kultur, die sich in hunderten, nein tausenden von Jahren um den grusinischen Rebensaft gebildet hat.

Als wir den Hof schließlich erreichen – zu meinem größten Erstaunen ist keine Achse gebrochen – werden wir herzlich vom Wirt empfangen, der uns zu einem opulent gedeckten Tisch führt.

Nun, so klärt Besiki mich auf, müsse zunächst der Tamada gewählt werden. Der Tamada sei der Tischmeister. Wenn Georgier zusammen essen und trinken sei ein Tamada unverzichtbar. Der Tamada verbinde die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft.

„Weißt Du, mein Freund, wir sind ein kleines Volk und mussten immer kämpfen, um zu überleben. Unser Leben war schon immer hart und wir konnten uns nur behaupten, weil wir unsere Traditionen lebendig erhalten und sie achten. Der Tamada erinnert uns dann, wenn es uns gut geht, an das, was wirklich wichtig ist. Durch ihn sitzen alle mit am Tisch: die, die vor uns waren und die, die nach uns sein werden. Der Tamada macht die Perlenkette sichtbar, deren Glieder wir sind.“

Dann kommt mit dem ersten Wein der erste Trinkspruch des Tamada: auf die Familie, die doch das wichtigste sei, was ein Mensch haben könne. Die er beschützen, ehren und erhalten müsse und ohne die er sei wie ein Nackter auf dem Schchara. Voller Inbrunst stoßen wir an.

Der Abend ist lang, doch die Weinkarte ist länger und so trinken wir unter anderem auf die Verstorbenen, die Kinder, die Frauen, Gott und irgendwann auch auf die Heimat.

„Die Heimat“, ruft der Tamada aus, „ist gut zu uns, denn sie gibt uns, was wir brauchen. Sie gibt uns unsere Wurzeln und schützt unsere Familien. Wir müssen sie ehren und sie beschützen. Möchten wir niemals vergessen, was wir an der Heimat haben! Erweisen wir uns als würdig, in unserer Heimat zu leben!“

Erneut werden die Gläser geleert. Dann Stille. Die Männer schauen mich an.

„Sag mal“, fragt Besiki unvermittelt, „warum macht Merkel das, was sie tut? Warum tut sie Euch das an?“

Die Frage zerschneidet die Perlenkette, die ich – erstaunt und beglückt zugleich – an diesem Abend in Händen halte. Ich überlege. Macht es Sinn, diesen magischen Abend auf diese Weise kaputt zu machen? Traurig blicke ich in das samtig-rot schimmernde Glas in meiner Hand, während ich darüber nachdenke, dass wohl keine Frage in Deutschland häufiger gestellt wurde in den letzten Jahren.

„Wisst Ihr“, sage ich schließlich leise, „wahrscheinlich fehlt uns ein Tamada. Wir haben niemanden, der uns daran erinnert, auf was es wirklich ankommt. Wir haben verlernt, die Dinge, auf die Ihr hier trinkt, zu achten. Ja wir haben sogar eigentlich gelernt, sie zu verachten. Und was Du verachtest, beschützt Du nicht.“

Betroffen sehen sie mich an. Sie verstehen mich nicht. Ich suche die Perlenkette im Raum, die doch eben noch da war.

„Tamada, gewährst Du mir die Ehre, auch einen Trinkspruch ausbringen zu dürfen?“

Er nickt huldvoll.

Plötzlich sehe ich die Kette wieder vor mir.

„Ich trinke auf die Dinge, die man nicht kaufen kann. Auf die Freundschaft. Auf das, was uns unsere Vorfahren hinterlassen haben und auf das, was wir unseren Kindern hinterlassen werden. Ich trinke auf die Wahrhaftigkeit und ich trinke auf Abende wie diesen. Und schließlich auch darauf, dass man sich dessen, was man besitzt, als würdig erweisen muss.“

Lange noch trinken wir an diesem Abend zusammen den uralten Wein Grusiniens.

Erst als ein sanfter Schimmer hinter den Bergen den Tag ankündigt, schließe ich die Tür zu meinem Hotelzimmer.

Viel später dann bin ich wieder in meiner Heimat. Erneut dem ganzen Kleister und den Figuren ausgesetzt, die sie mir nehmen wollen.

Aber etwas hat sich verändert – wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich meine Perlenkette und dann höre ich den Tamada.

Auf die Heimat – gagimardschos!

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