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Erdogan, der böse Wolf?

taksimplatz [1]Alle europäischen Medien und alle europäischen Regierungen sind sich einig: Der türkische Ministerpräsident Erdogan ist ein brutaler Diktator, der auf das eigene Volk schießt. So ungefähr, wenn auch mit Abstufungen, lautet der Tenor der politischen Stellungnahmen, mit denen wir seit einer gefühlten Ewigkeit bombardiert werden. Es scheint niemanden zu geben, der diese Auffassung hinterfragt, und niemanden, der gewisse Merkwürdigkeiten sowohl in den Ereignissen selbst als auch in der darauf bezogenen Berichterstattung wahrnimmt.

(Von Manfred Kleine-Hartlage)

Da ist zum einen der Ablauf der Ereignisse, genauer das groteske Missverhältnis zwischen dem Anlass der Demonstrationen, der Betonierung eines Istanbuler Parks, und der Dramatik der Entwicklung, bei der aus einem lokalen Funken ein landesweiter Flächenbrand bürgerkriegsähnlicher Unruhen geworden ist und eine kommunalpolitische Streitfrage in die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung mündete.

Zwar kennen wir solche Abläufe aus der Geschichte, aber dabei handelte es sich jeweils um Demonstrationen gegen Diktaturen, die politische Opposition grundsätzlich unterdrückten und mundtot machten. Wenn unter solchen Umständen eine Demonstration zustandekommt, egal für welches Anliegen, dann liegt es in der Natur der Sache, dass jede Art von Unzufriedenheit sich in ihr artikuliert, und dass das Volk, das sonst keine Stimme hat, die Gelegenheit beim Schopf packt, gleich das ganze Regime loszuwerden. Dies war etwa der Ablauf am 17. Juni 1953.

Die Türkei aber ist keine Diktatur, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es die DDR war. Sie ist gewiss keine Musterdemokratie wie die Schweiz, aber es kann doch nicht ernsthaft davon die Rede sein, dass Opposition dort nicht möglich oder in Wahlen ohne Erfolgschance wäre. Angesichts der rapiden Eskalation und Ausweitung sowohl der Unruhen als auch der in ihnen artikulierten Forderungen ist die offiziöse Version, dass wir es hier mit einem spontan sich vollziehenden Vorgang zu tun hätten, wenig glaubwürdig. Wenn man bedenkt, wie lange der Machtkampf zwischen islamistischen und im weitesten Sinne kemalistischen Kräften in der Türkei schon andauert und mit wie harten Bandagen er geführt wird, dann liegt die Vermutung zumindest nahe, dass hier ein von langer Hand geplanter und wohlorganisierter Versuch vorliegt, das Land unregierbar zu machen und dadurch, d.h. letztlich durch Gewalt, dessen gewählte Regierung zu stürzen.

Vermutlich hat die türkische Polizei überreagiert, aber solche Überreaktion kennen wir auch aus anderen Ländern, ohne dass dadurch gleich die Legitimität der Regierung in Frage gestellt würde. Und wie wir alle wissen, sind zum Beispiel Linksextremisten geradezu darauf spezialisiert, die Polizei in Situationen zu treiben, in denen sie hart durchgreift – und sich dann als „Opfer von Polizeiterror“ zu präsentieren. Ich weiß nicht, ob dies in der Türkei so war bzw. ist; aber sollten wir es tatsächlich mit einem organisierten Aufstand zu tun haben, so können wir sicher sein, dass dies ein Teil der Strategie war.

Immerhin wäre es die Pflicht der Medien – und der sich empört gebenden europäischen Politiker – gewesen, solchen naheliegenden Vermutungen nachzugehen und sie gegebenenfalls zu entkräften. Nichts dergleichen ist geschehen. Nirgendwo wird irgendein Zweifel geäußert, ob es zulässig, erst recht nicht, ob es weise ist, sich ohne genauere Kenntnis der Hintergründe in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes einzumischen. (Dass die Türkei selbst in dieser Hinsicht nicht gerade mit gutem Beispiel vorangeht, steht auf einem anderen Blatt.) Niemand, buchstäblich niemand, der in den etablierten Medien zu Wort kommt, scheint irgendeinen Zweifel an der mit choraler Einmütigkeit verbreiteten Version der Ereignisse auch nur für denkbar, geschweige denn für legitim zu halten.

Und niemand scheint sich darüber zu wundern, dass ausnahmslos alle Medien uns eine ganz entscheidende Information vorenthalten, die sonst bei jeder Demonstration als allererste genannt wird: nämlich welche politischen Kräfte zu ihr aufgerufen haben, welches politische Programm die Demonstranten verfolgen und welcher politischen Richtung sie angehören. Wir hören immer nur von den „friedlichen Demonstranten“ oder einfach „den Menschen“ – so, als ob es nicht eine Selbstverständlichkeit wäre, dass zu politischen Demonstrationen nicht irgendwelche „Menschen“, sondern Anhänger ganz bestimmter politischer Richtungen gehen. Gewiss gibt es unter deutschen Journalisten kaum Experten für türkische Innenpolitik, zumal es kaum etwas Undurchsichtigeres gibt als gerade diese türkische Innenpolitik, in der traditionell eine ganze Reihe von klandestinen Akteuren ihre Finger im Spiel haben. Berichten müssen sie über solche spektakulären Ereignisse aber trotzdem, und da keiner zugeben wird, dass er schlicht keine Ahnung vom Thema hat, schreibt ein Schreiberling vom anderen ab. Dies erklärt, warum Journalisten manipulierbar sind, es sagt uns aber nicht, wer sie warum manipuliert.

Offenkundig ist, dass in der Türkei ein Machtkampf stattfindet, bei dem die islamistische Regierung von Kräften unter Druck gesetzt wird, die man ganz allgemein „säkularistisch“ nennen darf – was in der Türkei freilich im Allgemeinen nicht bedeutet, dass sie Liberale, sondern dass sie Nationalisten sind. Es wäre elementare Journalistenpflicht gewesen, diesen Machtkampf als solchen zu bezeichnen und seine Hintergründe und deren politischen Gehalt zu beleuchten. Stattdessen werden wir mit einer völlig entpolitisierten, von moralisierenden Phrasen triefenden „Berichterstattung“ abgespeist, die von Propaganda, ja von Demagogie kaum zu unterscheiden ist: mit einem erbaulichen Ammenmärchen, in dem Erdogan als böser Wolf und seine Gegner als die sieben Geißlein figurieren.

Genau diese Art von entpolitisierter, emotionalisierender Desinformation kennen wir auch aus dem libyschen Bürgerkrieg, bei dem wir erst hinterher erfahren durften, dass unter den gepriesenen Rebellen jede Menge Al-Qaida-Terroristen mitmischten, und aus dem Syrienkrieg, bei dem uns sogar jetzt noch Assad als finsterer Teufel präsentiert wird, der „auf das eigene Volk schießt“ – welches Volk in Wahrheit laut NATO-Erkenntnissen immer noch mit satter Mehrheit (rund 70 Prozent) hinter ihm steht [2], während unter den Rebellen – wen wundert’s? – Islamisten zu den Hauptkräften gehören.

Wenn die politische Klasse Europas (und dessen Medien), also Kräfte, die aus Prinzip, Interesse und Ideologie stets gegen die Zukunft der europäischen Völker arbeiten, ein so auffallendes Interesse an der Delegitimierung und letztlich dem Sturz der früher so gehätschelten türkischen Regierung zeigen, dann sollte einen dies misstrauisch machen, auch und gerade, wenn man nicht durchschaut, welche strategischen und taktischen Überlegungen dieser neuesten Kehrtwende zugrundeliegen. Ich gebe zu, nicht zu wissen, welches Spiel hier gespielt wird. Aber ich habe keinen Anlass zu vermuten, dass es mir, wenn ich es wüsste, gefallen würde.

Ich will bestimmt niemandem Unrecht tun, aber mir scheint doch, dass Teile der islamkritischen Szene dazu neigen, in einer Mischung aus gewohnheitsmäßigem Erdogan-Bashing, Naivität und Bauernschläue auf einen Zug mit unbekannter Richtung aufzuspringen, ohne zu bedenken, wie viel Glaubwürdigkeit man verspielt, wenn man um eines taktischen Effekts willen, der bestenfalls Strohfeuercharakter haben wird, den etablierten Desinformationsmedien Glaubwürdigkeit attestiert, wo diese offenkundig das Publikum manipulieren. Wer dies tut, wird sich schwertun, diese Glaubwürdigkeit beim nächsten Mal zu bestreiten, wenn es wieder einen selber trifft. Gerade aus islamkritischer Sicht kommt es eben entscheidend nicht etwa darauf an, opportunistisch nach jeder Gelegenheit zu schnappen, die Türkei schlecht aussehen zu lassen; für uns muss es vielmehr darauf ankommen, dass das Publikum lernt, Medienlügen zu durchschauen. Und darauf, selber glaubwürdig zu bleiben.

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