Klagen über die Geistlosigkeit des Literaturbetriebs, die Zeitgeist-Beflissenheit der Literaten und die Machtkartelle der Medien, Stiftungen und Stipendien sind so alt wie dieser Betrieb selbst; und nicht selten hört man sie aus den Mündern der „verkannten Genies“, die sich für einen Bestseller natürlich zu schade wären und „lieber“ von der Hand in den Mund leben. Aber auch Hölderlin oder Nietzsche waren zu Lebzeiten kaum gelesene Außenseiter, und selbst Goethe konnte bei seinem Schwager Vulpius sehen, wie man kommerziell erfolgreiche Bücher schreibt.

(Von Karsten H., Frankfurt/M.)

Der Unterschied unserer heutigen Situation zur gewöhnlichen Unterschiedenheit von Höhenkamm-Literatur und belletristischen Konsumgütern besteht allerdings in zweierlei Hinsicht: Zum einen gibt es nicht mehr nur die Differenz von kultureller Elite und anspruchslosem Lesepublikum, sondern – da neue Formen von Zensur um sich greifen – zunehmende Spannungen zwischen Erwünschtem, gerade noch Geduldetem, Bekämpftem und sogar Verbotenem; zum anderen scheint das literarische Publikum überhaupt langsam auszusterben.

Früher konnte sich der unbekannte Autor damit trösten, daß er, wenn nicht für heutige Leser, so doch wenigstens für die „Nachwelt“ schreibe, aber diese Hoffnung setzte, selbst im Fall der Avantgarden, die sich als Vorhut des Künftigen sahen, doch immer noch das Bewußtsein eines Überlieferungsstromes voraus, in dem sich der einzelne vorfand. Diese Sicherheit besteht jedoch – angesichts der demographischen Katastrophe sowie des Schwindens der Bildungsvoraussetzungen und Rezeptionsfähigkeit für Literatur – nicht mehr, weshalb heute eine Krisendiagnose schwerer wiegt als früher.

Die Diagnose von Kultur- und sonstigen Krisen ist nicht die Sache der Herrschenden und Schwelgenden, sondern der abseits Stehenden; sie ist daher seit langem eine konservative und rechte Domäne. Zweifellos kann die Rechte im Rückblick auf das zwanzigste Jahrhundert die bedeutenderen Dichter und Denker für sich reklamieren, aber den Kulturbetrieb dominiert seit den sechziger Jahren die Linke und deren zeitgenössische kulturmarxistische Ideologie der Political Correctness. Entsprechend langweilig ist, bis auf wenige Ausnahmen, der literarische Markt. Aber auch die Rechte kann sich über ihre Marginalisierung nicht damit hinwegtrösten, daß ihre Autoren nur nicht gelesen würden – sie fehlen heute in der Belletristik, zumal in Deutschland, fast völlig. Es gibt noch immer maßgebliche rechtskonservative Kulturkritiker, Historiker und Philosophen, aber kaum Lyriker, Dramatiker und Romanciers, obwohl doch gerade die Rechte einen Sinn für die traditionellen Gattungen haben müßte; tatsächlich ist sie aber, genauso wie die Linke bzw. das postmoderne Establishment, in erster Linie in den neuen Medien zu Hause, bloggt und twittert.

Ein anspruchsvoller rechtskonservativer Roman?

Ob denn wohl eines Tages ein zeitgemäßer rechtskonservativer Roman geschrieben werde, wird oft gefragt. Einen solchen müßte es doch schon längst geben; schließlich ist der Roman diejenige Gattung, in der sich bevorzugt der Geist einer Zeit, das Lebensgefühl einer Generation spiegelt, und gerade in der Diagnose unserer Krisenzeit liegt doch die Kraft der Rechten. Der dezidiert konservative oder rechte Roman wird schmerzlich vermißt.

Jetzt hat Björn Clemens im Telesma-Verlag einen voluminösen Wurf vorgelegt, der sich in diese Lücke einfügen läßt – es ist gleichzeitig sein Romandebüt und der wohl erste umfangreiche Roman der Neuen Rechten, der eine Bestandsaufnahme der deutschen Gegenwart sein will. „Pascal Ormunait“ heißt das Buch des Düsseldorfer Rechtsanwaltes, der bislang sowohl mit juristischer Fachliteratur als auch mit politischer Lyrik, Aufsätzen und vor allem mit einem in der „Szene“ vielbeachteten längeren Essay unter dem Titel „Abendbläue – die Typologie der Stunde Null“ hervorgetreten ist. „Ein deutscher Justizroman“ ist ein naheliegender Untertitel bei einem Autor, der als Anwalt auf „politische Fälle“ spezialisiert – und daher nicht unumstritten – ist und viele Jahre lang selbst politisch tätig war (zuletzt bis 2006 als stellvertretender Bundesvorsitzender der „Republikaner“). Gleichwohl ist das Buch weder Autobiographie noch Selbstrechtfertigung, Bewältigung realpolitischen Scheiterns oder notdürftig in literarische Form gebrachtes Pamphlet, sondern es ist, bei aller politisch-juristischen Thematik und dem offenkundigen polemischen Elan seines Verfassers, durch und durch ein Roman – und zwar sowohl ein Bildungsroman als auch ein Sittenspiegel unserer Zeit.

Die Handlung spielt in den Jahren 2008 und 2009 in Köln, das der Autor genauestens kennt und beschreibt, und im Mittelpunkt steht ein Abiturient mit dem auf ostpreußische Vorfahren verweisenden Namen Pascal Ormunait. Der junge Mann ist, zumindest dem Anspruch nach, ein fleißiger Schüler, der nur manchmal mit Freunden über die Stränge schlägt, ein behüteter Sohn aus bessergestellter „Patchwork“-Familie, hinter deren bürgerlicher Fassade es jedoch kriselt und immer wieder zu Ausbrüchen kommt, wenn ein Tabu gebrochen wird. Er ist klug, nett, meist verständnisvoll und insgesamt ein Durchschnittsexemplar des heutigen deutschen „Jünglings“, fast eines „Jungmannes“ – immerhin hat er anfangs eine hübsche Freundin, aber diese fühlt sich bald zu „südländischen“ Jugendlichen hingezogen, die ihr mit ihrer offensiv eingesetzten „Männlichkeit“ mehr imponieren. Kurz: Pascal ist ein wenig schlapp, ein jugendlicher „Mann ohne Eigenschaften“, und er soll genau das sein, denn er stellt ja nicht etwa ein aufgeblähtes, potentes, geniales Möchtegern-Alter-Ego seines Schöpfers dar, wie es sonst oft der Fall ist, sondern er ist ein Antiheld und vor allem ein „deutsches Opfer“.

Charakteristischerweise fehlt ihm, wie heute fast einer ganzen Generation junger Menschen, die väterliche Identifikationsfigur; seine biedere, in ihrer besorgten und still-ergebenen Art etwas aus der Zeit gefallenen und so gar nicht dem Powerfrau-Ideal entsprechende Mutter lebt mit einem ständig von seinem „Business“ eingespannten Geschäftsmann zusammen, der für seinen Stiefsohn selten Verständnis aufbringt; und Pascals Verhältnis zu Freunden erschöpft sich in gemeinsamen Sauftouren und im Prahlen mit „Weibergeschichten“.

Die wichtigste Bezugsperson für Pascal ist sein Großvater Wilhelm Ormunait, mit dem er ungewöhnlich viel Zeit verbringt und sich bestens versteht. Sie haben dieselben historischen Interessen; der Großvater erläutert Pascal viele geschichtliche und insbesondere auch ästhetische und architektonische Zusammenhänge, er repräsentiert aufgrund seiner Biographie das von der übrigen Familie verdrängte Schicksal der Vertreibung nach dem Krieg, und er verkörpert überhaupt – sehr im Gegensatz zu Pascals Lehrern, die von der Geschichte lediglich moralisierend reden – das historische Element. Im Gegensatz zu den weichgespülten Gegenwartsmenschen ist der knorzige Alte der einzige Charakterkopf und auch die einzige „ganze“ Figur des Romans; alle anderen wurden, im Sinne einer absichtlich zugespitzten Stereotypisierung, vom Autor auf ihren jeweiligen Lebenshorizont reduziert und widmen sich ihrem „Job“, ihrem Haushalt oder ihrer Freizeit. Gerade aus dieser Halbheit und Angepaßtheit beziehen sie aber, als Musterbilder heutiger Existenz, ihre Plastizität und Überzeugungskraft. Insbesondere ist dem Autor anzurechnen, daß er seine Figuren nicht nur, wie das bei einem dezidiert politisch ausgerichteten Verfasser naheliegen könnte, theoretisieren und als wandelnde Manifeste herumlaufen, sondern daß er sie handeln und durch ihr Dasein wirken läßt.

Realität der multikulturellen Großstadt

In diese Welt des oberflächlich geordneten Schul- und Familienalltags bricht nun die Realität der multikulturellen Großstadt in Gestalt eines jugendlichen Schlägers mit Migrationshintergrund ein, der dem Großvater nach einem Streit wegen falschen Parkens einige Fausthiebe versetzt, worauf dieser ins Krankenhaus eingewiesen wird. Sein Zustand erscheint zunächst nicht so schlimm, verschlechtert sich aber rapide, und der alte Mann stirbt, ohne daß seine Todesursache in direktem Zusammenhang mit den Schlägen steht. Für Pascal beginnt eine Odyssee durch das deutsche Justizwesen: Fassungslos muß er erleben, daß der Tod seines Großvaters – in seinen Augen ein „Mord“ – juristisch durchaus korrekt nicht strafrechtlich geahndet werden kann. Daraufhin versucht er, sein Recht auf eigene Faust durchzusetzen und beschuldigt den Schläger einer Serie von Auto-Einbrüchen, deren Zeuge er zufällig geworden ist. Die falsche Anschuldigung fliegt auf, und Pascal hat sich nun selbst strafbar gemacht – vor allem aber bekommt er bald die Rache der Freunde seines Widersachers zu spüren. Mitten im Kölner Karneval wird er an einer S-Bahnstation brutal zusammengeschlagen und schwer verletzt. Pascal wird daraufhin nicht nur durch die Krankenhausaufenthalte aus seiner geregelten Bahn geworfen und kann sich nicht mehr auf das Abitur vorbereiten, sondern er entfremdet sich immer mehr der Welt der Schule und des Elternhauses. Zu Hause erfährt er das oberflächliche Besorgtsein der Mutter und das völlige Unverständnis seines Stiefvaters, in der Schule lernt die Verlogenheit, Feigheit und Borniertheit eines ideologisierten Bildungssystems kennen und wird aufgrund seiner Auseinandersetzungen mit ausländischen Jugendlichen als Rechtsextremist geächtet; und auch vor Gericht findet er sich eher in der Täter- als in der Opferrolle wieder.

Der einzige, der ihn in dieser Zeit versteht, ist sein neu gewonnener Freund Kevin, der in nationalen und „identitären“ Kreisen verkehrt und Pascal über das „System“ aufklärt, ihn dabei aber auch zunehmend „aufwiegelt“. Kevin, der – eigentlich unmögliche – „gute“ oder in seinen Motiven zumindest verständliche Rechte ist reifer und erfahrener als Pascal und verhält sich stets hilfsbereit, ist aber durchaus nicht frei von Ambivalenz: Der nach seinem Selbstbild mit allen Wassern gewaschene Revolutionär zeigt auch Züge eines jugendlichen Revoluzzers, der immer wieder, fast zwanghaft, mit kindischer NS-Nostalgie provoziert. Allzu deutlich belegt seine Biographie, wie Schuldkult und einseitige Geschichtspädagogik genau das bewirken, was sie angeblich verhindern sollen, und dazu führen, daß gutwillige, leistungsorientierte Begabungen in einer Gesellschaft, die ihnen wenigIdentifikationsmöglichkeiten bietet, in sinnloser Protest-Pose erstarren.

Pascal jedenfalls gerät in eine Abwärtsspirale und kommt immer häufiger mit Polizei und Justiz in Konflikt. Parallel zu seinem äußeren Abstieg und geistigen Ausstieg aus der Gesellschaft vollzieht sich aber eine innere Reifung, so daß der Roman mit einem trotzig-zuversichtlichen und durchaus religiös motivierten Dennoch ausklingt. „Am Ende werden wir siegen!“ lautet der letzte Satz, wobei das Wir und die Art des Sieges unbestimmt bleiben.

Ein trotziges „Dennoch“

Bei aller treffenden und manchmal ironisch überspitzten Schärfe und Totalität der Krisenanalyse stimmt Björn Clemens nicht in die unter Konservativen weit verbreitete larmoyante Schicksalsergebenheit ein, nach der letztlich alles verloren ist und Deutschland sowie das gesamte Abendland zwischen den Mühlsteinen einer selbstzerstörerischen, alles Eigene und historisch Gewachsene verachtenden Ideologie und der gnadenlos vorangetriebenen Überfremdung und Islamisierung zerrieben werden, sondern seine Zuversicht läßt ihn „dennoch die Schwerter halten vor die Stunde der Welt“ (Gottfried Benn).

Keineswegs aber nur aus solchen politischen Gründen – sozusagen als geistiger Proviant für den Streiter im „Kampf der Kulturen“ –, sondern vor allem wegen des umfassenden Zeit- und Gesellschaftspanoramas, das der Roman entwirft, wegen der Sensibilität, mit der seine Gestalten gezeichnet sind, wegen der aus genauester Orts- und juristischer Sachkenntnis gespeisten Authentizität des Buches und nicht zuletzt aufgrund eines der bloßen Schilderung des Absurden entspringenden Witzes ist „Pascal Ormunait“ ein literarisches Ereignis.

» Björn Clemens: Pascal Ormunait. Ein deutscher Justizroman, Treuenbrietzen (Telesma-Verlag) 2013, 372 S., geb. mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-941094-07-9, 22,80 €.

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11 KOMMENTARE

  1. Jedes Sittengemälde war zu seiner Zeit ein Skandal. Geschenkt!
    Seit sich Literaten im bundesdeutschen Alltag mit ihrer persönlichen Nabelschau beschäftigen, ist Literatur gestorben.

  2. Goethe?
    Sein Leiden des jungen Werther hat ihn im Alter von 25 Jahren zum Bestsellerautor gemacht.
    Was ihm wiederum erlaubt hat, seinen Neigungen nachzugehen. Auch künstlerisch.
    Plus, es war ja auch Vermögen von den Eltern da. Kurz: das Geld aus seiner Schriftstellerei hatte ihn unabhängig von seinen Eltern gemacht, das Geld seiner Eltern später unabhängig vom Literaturbetrieb und Gönnern.
    Es gibt schlimmere Schicksale.

  3. Las diesen Roman kürzlich. Mein erstes Urteill war: ästhetisch wertlos, aber inhaltlich von Brisanz. Inzwischen halte ich es für angemessen, dem Buch einen neuen politischen Gesellschaftsrealismus zuzubilligen, der die unseligen Entwicklungen mit kraftvoller Härte schildert. Das ist ein ganz neuer Ton im belletristischen Lager, dessen Wirklichkeitsbegriff durch groteske Verzerrungen geprägt ist. Wünsche dem Werk viele neugierige Leser.

  4. Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Nimmt er die heutige Verfallsgesellschaft doch glänzend aufs Korn. Mehr davon! Inzwischen gibt es übrigens eine Reihe nonkonformer und teilweise außerordentlich guter Romane zum Thema „Multikulti“ oder auch „Überwachungsstaat“ und „Neue Weltordnung“.

  5. Muß ich mal loswerden: Kölner Klüngel …
    von einem Düsseldorfer Autoren ist so
    treffend, wie ein Berlin-Roman von
    einem Sachsen …

    Der vielbeschriebene Werther kannte das
    ganze Problem nicht, ich wünsche mir
    schon mal wieder einen Deutschen (Entwicklungs-)
    Roman, der gut und gerne weder Köln oder Düsseldorf, noch Berlin oder Leipzig (oder
    auch Dresden und Rostock) zum Inhalt hat.

  6. PS. Ich kann das nicht leisten, ich bin „nur“
    Agraringeneur, zwar mit literarischem Interesse,
    aber doch eben „nur“ Agraringeneur.

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