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Thorsten Hinz: „Der Weizsäcker-Komplex“

[1]Für die meisten Deutschen verkörpert Richard von Weizsäcker zweifellos das Ideal eines Bundespräsidenten, und in der Tat hat keiner seiner Vorgänger oder Nachfolger die Bundesrepublik auch nur annähernd mit dem Stilgefühl und der royalen Aura repräsentiert, die für Weizsäckers‘ Habitus charakteristisch waren und sind. Weizsäcker hat die heimliche Sehnsucht nach einem Monarchen befriedigt, zu dem man aufschauen kann – und zwar so sehr, dass Kritik an ihm vielen Menschen buchstäblich als Majestätsbeleidigung erscheinen muss. Thorsten Hinz hat mit „Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie“ (Edition JF, Berlin 2012, 353 S., € 24,80) [2] eine der ersten kritischen Würdigungen des ehemaligen Bundespräsidenten vorgelegt und ihn dabei ein wenig entzaubert.

Es war höchste Zeit, dass dieses Buch erschien. Für ein demokratisches Gemeinwesen ist die kritiklose Verehrung eines Politikers nämlich auch dann fragwürdig – und kann sogar gefährlich sein -, wenn der Betreffende persönlich ein honoriger Mann ist. Die Autorität des Präsidenten von Weizsäcker war zwar „nur“ geistiger und moralischer Natur, die Art, wie er sie ausübte, hat aber bis heute nachwirkende Folgen.

Insbesondere „die Rede“, also seine Rede zum 40. Jahrestag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, die von großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit wie ein geschichtspolitisches Evangelium aufgenommen wurde, hat die Debatte über die jüngere deutsche Geschichte auf ein Gleis geschoben, von dem sie bis heute nicht heruntergekommen ist. Hinz betrachtet sie zu Recht als den Auftakt zum „Historikerstreit“ der achtziger Jahre, in dessen Folge das Reden über Geschichte in immer engere Schablonen gepresst wurde: Die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zurück zu Wilhelm II. hörte auf, Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis und öffentlicher Debatte zu sein, ihre Deutung wurde zu einer Art Staatsreligion, über deren Themen faktisch nur noch in vorgegebenen rituellen Formeln gesprochen werden darf, von denen abzuweichen als Blasphemie gilt.

Die Bundesrepublik betrachtet sich seit ihrer Gründung als Gegenentwurf: bis 1989 in erster Linie als Gegenentwurf zum Kommunismus und der DDR, seither primär als Gegenentwurf zum Dritten Reich – und man möchte fragen, was für ein Staatswesen das eigentlich ist, das es offenbar nötig hat, sich durch den Bezug auf möglichst schwarze Kontrastfolien zu legitimieren. Die wirkliche Geschichte der Deutschen, die sich vor achtzig Jahren irgendwie mit dem damaligen Regime arrangieren mussten, verschwindet unter solchen Umständen hinter einer Geschichtsideologie, die erkennbar aus staatspolitischen Gründen nachträglich konstruiert wurde. Dieser Ideologie zufolge muss Jeder, der kein ausgewiesener Widerstandskämpfer war, ein Nazi und ein Verbrecher gewesen sein.

Weizsäcker dürfte diese Entwicklung kaum gewollt haben, aber er hat ihr unfreiwillig Vorschub geleistet. Hinz arbeitet mit bestechender analytischer Schärfe die komplexen Motive heraus, die seiner Rede zum 8. Mai zugrundelagen:

Da ist das Motiv, seinen Vater Ernst von Weizsäcker zu rehabilitieren und damit zugleich jene Familienehre wiederherzustellen, die seit dessen Verurteilung im sogenannten Wilhelmstraßenprozess der Alliierten angekratzt war. Der Vater wird zwar in der Rede nicht erwähnt, aber dieser familiäre Hintergrund ist der Schlüssel zum Verständnis von Weizsäckers Rhetorik. Ernst von Weizsäcker war unter Ribbentrop Staatssekretär im Auswärtigen Amt gewesen. Er hatte den Nationalsozialisten durchaus kritisch gegenübergestanden, aber ein „Widerstandskämpfer“ war er nicht gewesen. Er war dabei weder ein Nazi noch ein Landesverräter. Er diente dem Regime einerseits aus Patriotismus und Verantwortungsgefühl – man konnte das Schicksal Deutschlands schließlich nicht einfach den Nationalsozialisten überlassen – wie auch aus Ehrgeiz für sich und seine Dynastie. Für solche Grautöne ist im heutigen Geschichtsdiskurs freilich kaum noch Platz, wie allein das unsägliche Machwerk „Das Amt“ beweist, in dem das AA pauschal als Verbrecherorganisation diffamiert wird.

Da ist das Motiv, den Führungsanspruch der traditionellen deutschen Eliten (der ebenfalls durch die Zusammenarbeit mit Hitler in Frage gestellt war), zu denen die Familie Weizsäcker ohne Zweifel gehört, fortzuschreiben.

Und da ist das Motiv, Deutschlands Platz unter den westlichen Nationen dadurch zu sichern, dass die BRD das Geschichtsbild der Siegermächte in toto übernimmt und sich dadurch sozusagen moralisch unter die Sieger einreiht – freilich um den Preis einer Politikauffassung, wonach Politik in der Vertretung bestimmter Werte und Ideologien besteht, sodass die Vertretung „westlicher Werte“ im Zweifel Vorrang vor der Verfolgung eigener nationaler Interessen gewinnt. Unnötig zu sagen, dass diese Politikauffassung außerhalb Deutschlands kaum geteilt wird.

Diese Motive widersprachen einander: Wenn Weizsäcker den Vater und die deutschen Eliten rehabilitieren wollte, musste er der manichäischen Schwarzweißmalerei des Siegerdiskurses widersprechen, dessen Grundlinien keineswegs antifaschistisch, sondern antideutsch sind. Die Alliierten hatten sich geweigert, mit dem deutschen Widerstand zusammenzuarbeiten, weil sie nicht primär Hitler loswerden, sondern Deutschland als Großmacht ausschalten wollten. Unter diesen Umständen war Widerstand kaum anders möglich als um den Preis des Landesverrats. Darüber war Ernst von Weizsäcker sich im Klaren – anders als manche Widerstandskämpfer, die sich darüber hinwegtäuschten -, und diesen Preis war er nicht bereit zu bezahlen.

Da sein Sohn den Prämissen des Siegerdiskurses einerseits nicht widersprechen konnte, andererseits aber dessen Konsequenzen entgehen wollte – wonach sein Vater und mit ihm die deutschen Oberschichten Verbrecher gewesen seien und Deutschland auf alle Ewigkeit für deren Verbrechen zu bluten habe -, blieb ihm in seiner berühmten Rede nur die Flucht in eine Doppelbödigkeit und intellektuelle Unaufrichtigkeit, die sich hinter blendender Rhetorik verbarg und deshalb zunächst kaum jemandem auffiel. Hinz analysiert die entscheidenden Passagen der Rede Punkt für Punkt. Er zeigt, wie Weizsäcker dabei mit zum Teil unlauteren rhetorischen Mitteln Denkfiguren suggeriert, zu denen er dann wieder nicht steht: Da weist er den Vorwurf der Kollektivschuld zurück – dadurch immunisiert er sich gegen Kritik -, um dann eine Argumentationskette aufzubauen, die auf just diesen Kollektivschuldvorwurf hinausläuft.

Dieser unausgesprochene, aber desto wirkungsvoller suggerierte Kollektivschuldvorwurf an die Adresse des gesamten deutschen Volkes entlastet nicht nur dessen Oberschichten – was hätten sie denn schon machen sollen, wo sie doch zwischen Hitler und dem deutschen Volk gleichsam eingeklemmt waren? -, sondern macht sie zu tragischen Helden, die die bessere Einsicht ja gehabt hätten, aber nicht zum Zuge gekommen seien – weswegen es nun erst recht auf sie zu hören gelte. Auch diese Suggestion schwang in Weizsäckers Rede mindestens unterschwellig mit. Sie ist, wie Hinz zeigt, schon seit 1945 Teil einer Kollektivstrategie deutscher Eliten, die sich beizeiten bei den Alliierten als sozusagen von der Geschichte berufene Kolonialverwalter andienten, deren Aufgabe es sei, die Deutschen mit moralischem Pathos an die Kandare zu nehmen. Hinz nennt dafür einige Beispiele, am prominentesten sicher das von Marion Gräfin Dönhoff, der langjährigen Grande Dame der „Zeit“.

(Wie sich heute herausstellt, war dies für die traditionellen Eliten freilich ein schlechtes Geschäft, wofür wiederum exemplarisch Weizsäckers Versuch steht, den Vater auf Kosten des Volkes reinzuwaschen. Der „antifaschistische“ Diskurs ist schließlich nicht dazu da, die traditionellen Eliten zu konservieren und zu legitimieren – bei aller Unterwerfungsbereitschaft sind sie aus der Sicht des globalistischen Systems eben doch unsichere Kantonisten -, sondern sie zu ersetzen.)

Überhaupt gehört zu den großen Stärken des Buches die Art, wie Thorsten Hinz mit Bezug auf die Weizsäckers das komplexe Beziehungsgefüge zwischen den Deutschen, ihren traditionellen Eliten, den Nationalsozialisten, der politischen Klasse der BRD und den westlichen Alliierten analysiert. Er zeichnet dadurch das Handeln und die Charaktere Ernst und Richard von Weizsäckers mit großer Tiefenschärfe und macht es verstehbar. Zugleich schreibt er damit ein beeindruckendes Stück Sozialgeschichte der deutschen Eliten. Wie auch schon Hinz‘ vorheriges Buch „Die Psychologie der Niederlage“ [3] ist „Der Weizsäcker-Komplex“ eines jener Werke, die man gelesen haben sollte, wenn man verstehen will, warum unser Land in seiner jetzigen misslichen Lage ist, und wer es warum dorthin geführt hat.

Thorsten Hinz (2012): Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie. Berlin: Edition JF [2], 353 Seiten, 24,80 Euro.

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