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Licht auf ein düsteres Kapitel der Zeitgeschichte

feuernacht [1]Jüngste Forschungen legen offen, wie Italien während der „Bombenjahre“ in Südtirol manipulierte und täuschte. Geschichte bedarf bisweilen der Revision. Revision heißt, sie aufs Neue in den Blick zu nehmen. Erstmals aufgefundene oder unterbelichtet gebliebene, mitunter auch bisher gänzlich unbeachtete oder dem freien Zugang entzogene Dokumente zeitigen meist erhellende Einblicke und nicht selten ertragreiche Befunde. Wobei die akribische Auswertung und sorgfältige Analyse von ans Licht geholten Fakten jene „Erkenntnisse“ grundlegend zu erschüttern vermögen, worauf die bis dato für sakrosankt erachteten, historiographisch festgeschriebenen wie massenmedial verbreiteten „Wahrheiten“ und/oder Meinungen respektive „Überzeugungen“ beruhten.

(Von Reynke de Vos)

Eine derart „revisionistische“ Umschreibung zeitgeschichtlicher Gewissheiten ist nunmehr aufgrund der neuerlichen Inaugenscheinnahme des an Spannungen reichsten Kapitels der jüngeren österreichisch-italienischen Beziehungen zwingend geboten. Im Allgemeinen ist dieses Kapitel vom Südtirol-Konflikt sowie vom Freiheitskampf mutiger Idealisten und im Besonderen von den sogenannten „Bombenjahren“ geprägt gewesen. Ein österreichischer Militärhistoriker, der sich wie nie jemand zuvor intensiv mit den brisantesten Akten seines Landes über die Geschehnissen der 1960er Jahre befasste, legte dazu soeben eine beeindruckende, großformatige Publikation von nahezu 800 Seiten vor, worin er manches zuvor für sicher, weil „wahr“ Gehaltene ins rechte Licht rückt und damit vom Kopf auf die Füße stellt.

Brisante Akten

Hubert Speckners Buch „Von der ,Feuernacht‘ zur ,Porzescharte‘. Das ,Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten“ [Wien (Verlag Gra&Wis) 2016; ISBN 978-3-902455-23-9; 768 S.; zahlreiche Abb., 49,– €] ist Ergebnis und Ertrag disziplinierter langjähriger, umsichtiger Studien im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik. Darüber hinaus erstrecken sie sich auf die – der breiteren Öffentlichkeit nicht zugänglichen – Bestände der Staatspolizei (StaPo) und der Justiz sowie auf einschlägige Dokumentationen des Entschärfungsdienstes des Innenministeriums; sie erfassen schließlich auch „streng geheime“ Bestände des Verteidigungsministeriums über den Einsatz des Bundesheeres an der Grenze zu Italien anno 1967. Daraus ergibt sich für den promovierten, an der Landesverteidigungsakademie in Wien tätigen Offizier der Befund, dass der Truppeneinsatz sozusagen den Höhepunkt der „verstärkten Grenzüberwachung“ der Sicherheitskräfte der Republik Österreich nach der „Feuernacht“ (11./12. Juni 1961) in Südtirol bildete, in der Aktivisten des „Befreiungsauschusses Südtirol“ (BAS) in einer konzertierten Aktion mittels Sprengung von ungefähr 40 Hochspannungsmasten die Energieversorgung im Bozner Becken zeitweise lahmgelegt und damit der Industrie Norditaliens partiell Schaden zugefügt hatten.

Von 1961 bis zum Sommer 1967, dem absoluten „Höhepunkt“ der Südtirol-Problematik nach dem Zweiten Weltkrieg, geriet Österreich unter wachsenden Druck Italiens. Dies führte nach dem „Vorfall auf der Porzescharte“, zufolge dessen gemäß amtlichen italienischen Verlautbarungen am 25. Juni 1967 vier italienische Soldaten den Tod fanden, einerseits zum Veto Italiens gegen die damaligen EWG-Assoziierungsverhandlungen Österreichs, andererseits zur „verstärkten Grenzüberwachung“ durch sein Militär. Dem Geschehen rund um den Vorfall vom Juni 1967 hatte Speckner bereits sein aufsehenerregendes, 2013 ebenfalls im Verlag Gra&Wis zu Wien erschienenes Buch „Zwischen Porze und Roßkarspitz…“ gewidmet. Anschließend nahm er sich aller vorhandenen sicherheitsdienstlichen Akten zu Südtirol an, denen die maßgebliche zeitgeschichtliche Forschung – entgegen dem weithin erweckten Eindruck, wonach „eigentlich alles gesagt“ sei – ein nur äußerst geringes Interesse entgegengebracht hatte. Daher seien von den akribisch aufbereiteten 48 „aktenkundig“ gewordenen Vorfällen einige exemplarisch vorgestellt, bei denen die aus den Inhalten der jeweiligen österreichischen Dokumente gewonnenen Erkenntnisse massiv von den jeweiligen offiziellen italienischen Darstellungen abweichen.

Vertuschung des wahren Sachverhalts

So hatte Italien mittels einer „diplomatischen Note“ unverzüglich die angebliche „Untätigkeit der österreichischen Sicherheitsbehörden gegen die Terroristen, die von Österreich aus operieren“ angeprangert, als es in der Nacht vom 12. auf den 13. September 1965 am Reschenpass angeblich zu einem „Angriff von BAS-Aktivisten gegen eine Alpini-Kaserne“ gekommen sei. Indes ergaben die Nachforschungen der StaPo, dass es sich lediglich um eine in der „Manuela Bar“ in Reschen unter angetrunkenen italienischen Soldaten ausgebrochene Streiterei wegen anwesender deutscher Urlauberinnen gehandelt hatte. Einige Soldaten verließen demnach die Bar, holten in der Kaserne ihre Waffen und eröffneten das Feuer auf die im Lokal Verbliebenen. Dagegen waren laut StaPo nirgendwo Einschläge oder Schäden durch angeblich von BAS-Leuten geworfene Handgranaten zu registrieren gewesen. Stattdessen hatte der ebenfalls anwesende und ebenfalls alkoholisierte Kasernenkommandant am nächsten Morgen einen „Terroristenüberfall“ gemeldet, um den wahren Sachverhalt zu vertuschen. Und Italien überzog Österreich mit Anschuldigungen. Die Schüsse am Reschenpass wurden fortan und werden bis heute wahrheitswidrig als „BAS-Anschlag“ dargestellt.

Ähnlich verhält es sich hinsichtlich eines Vorfalls, der sich am 23. Mai 1966 am Pfitscherjoch – am Grenzverlauf zwischen Südtiroler Pfitschtal und Nordtiroler Zillertal – zutrug. Laut offizieller italienischer Darstellung löste Bruno Bolognesi, Angehöriger der Guardia di Finanza (Finanzwache), beim Betreten der Schutzhütte nahe der Grenze eine 50-kg-Sprengladung aus, die ihn das Leben gekostet habe. Italien verdächtigte sofort die „Pusterer“, vier BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, und führte ohne Beiziehung österreichischer Sicherheitsbehörden im Zillertal Erhebungen durch. Allerdings existiert eine vom Bozner Kommando der Guardia di Finanza zu dem Vorfall angelegte Bilddokumentation, derer die österreichischen Behörden habhaft wurden. Laut unabhängig voneinander vorgenommenen Expertisen von Spreng(stoff)sachverständigen belegen die Aufnahmen – ebenso wie das Foto, welches den toten Finanzer zeigt – allerdings keinesfalls die Explosion von 50 kg Sprengstoff, sondern vielmehr eine Gasexplosion in der Schutzhütte. Doch nach wie vor beschuldigt Italien besagte BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, weshalb Rom deren Rehabilitierung stets strikt ablehnt(e). Wohingegen die „Strafverfolgung“ für jene italienischen Neofaschisten ans Lächerliche grenzt, die für zweifelsfrei erwiesene Sprengstoffanschläge auf österreichische Einrichtungen – wie am 01. Oktober 1961 auf das Andreas-Hofer-Denkmal in Innsbruck oder am 18. August 1962 auf das „Russendenkmal“ in Wien, respektive den für einen österreichischen Polizisten tödlichen Anschlag vom 23. September 1963 am Ebensee – verantwortlich waren.

Ein „Attentat“, das keines war

Der spektakulärste und für die damaligen österreichisch-italienischen Beziehungen folgenschwerste Vorfall trug sich am 25./26. Juni 1967 auf der Porzescharte, am Grenzverlauf zwischen Osttirol und der italienischen Provinz Belluno, zu. Die vorliegenden österreichischen Akten beweisen zweifelsfrei, dass die offizielle italienische Version, wonach die angeblich von drei „Terroristi“ aus Österreich begangene Tat – Sprengung eines Strommastes und Verlegen einer Sprengfalle, bei deren Detonation vier Soldaten getötet und einer schwer verletzt worden sein sollen – so nicht stimmen kann. Darüber hinaus ging aus mehreren Geländebegehungen und Feldstudien sowie aus der Expertise ausgewiesener Sachverständiger die sprengtechnische Unmöglichkeit dieser bis heute offiziellen Darstellung hervor, was Italien bis zur Stunde ignoriert. Für die Experten gilt es als gesichert, dass sich dort mindestens drei Explosionen ereignet haben müssen. Und es zeigt(e) sich mit einiger Deutlichkeit, dass Angehörige der italienischen „Stay behind“-Organisation „Gladio“ im Zuge der von staatsstreichbeseelten Militärgeheimdienstoffizieren verfolgten „Strategie der Spannungen“ als wahre Verursacher der Geschehnisse gelten müssen, deren Machenschaften in Italien erst zu Beginn der 1990er Jahre publik werden sollten. Was allerdings für die 1971 in Florenz zu Unrecht – weil für eine nicht begangene Tat – und darüber hinaus wider die Europäische Menschenrechtskonvention – weil in Abwesenheit – zu lebenslanger Haft verurteilten drei Österreicher, von denen noch zwei am Leben sind, bis zur Stunde folgenlos geblieben ist.

Instrumentalisierte, gezielte Anschuldigungen

Aus dem was Hubert Speckner sorgsam zusammengetragen, gründlich ausgewertet und im Zusammenwirken mit Sachverständigen aufbereitet sowie durch schlüssige Analysen untermauert hat, lassen sich wichtige Erkenntnisse gewinnen und resümierend einige revisionistische Schlüsse ziehen. So fanden Aktionen des BAS ungefähr zeitgleich eine gewisse Parallelität durch italienische Neofaschisten. Umgehend instrumentalisierte Italien vor allem jene Vorfälle mit bis heute nicht einwandfrei geklärten Hintergründen und nutzte sie politisch wie medial gegen Österreich. Hatte Italien nach dem Zweiten Weltkrieg alles versucht, um die Südtiroler – mit Hinweis auf die zwischen Hitler und Mussolini 1939 vereinbarte, aber infolge Kriegsverlaufs verringerte und schließlich zum Stillstand gekommene „Option“ – zu Nazis abzustempeln, so stellt(e) es seit Ende der 1950er Jahre alle BAS-Aktivisten in die rechte Ecke und politisch wie publizistisch unter Generalverdacht des N(eon)azismus. Was in politischen Milieus Österreichs und Deutschlands von ganz links bis zur Mitte verfing und bis heute anhält. Und womit den Aktivisten, die aus Verzweiflung ob der kolonialistischen Unterwerfungspolitik – auch des „demokratischen“ Nachkriegsitaliens – handelten, bis zur Stunde Unrecht geschieht.

Der BAS-Grundsatz, wonach „bei Anschlägen keine Menschen zu Schaden kommen dürfen“, wurde trotz Eskalation der Gewalt zwischen 1961 („Feuernacht“) und 1969 (mehrheitliche Annahme des Südtirol-„Pakets“ durch die Südtiroler Volkspartei) weitestgehend eingehalten. Der Tod nahezu aller während dieser Jahre gewaltsam ums Leben gekommenen Personen ist nicht dem BAS als solchem anzulasten, wie dies fälschlicherweise von der italienischen Justiz und diversen Medien wahrheitswidrig festgestellt sowie verbreitet wurde und noch heute behauptet wird. Stattdessen handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Unfälle – so im Falle des Todes von Bruno Bolognesi in der Pfitscherjoch-Hütte am 23.06.1966 sowie von Herbert Volgger, Martino Cossu und Franco Petrucci am 09.09.1966 auf der Steinalm-Hütte. Oder um einen Unfall in Verbindung mit einer Geheimdienstaktion – so im Falle des Todes von Olivo Dordi, Francesco Gentile, Mario Di Lecce und Armando Piva am 25./26.06.1967 auf der Porzescharte. Oder um Geheimdienstaktivitäten wie im Falle des Todes von Filippo Foti und Edoardo Martini im „Alpenexpress“ zu Trient am 30.09.1967. In anderen ungeklärten Todesfällen – wie jenem des Vittorio Tiralongo (03.09.1964) sowie dem des Palmero Ariu und des Luigi De Gennaro (26.08.1965), schließlich auch jenem des Salvatore Gabitta und Guiseppe D´Ignoti (24.08.1966) – sind die Strafverfahren ohne Anklageerhebung infolge nicht ausreichender Erkenntnisse ohnedies eingestellt worden.

Verdrehung der Tatsachen

Für einige im Zusammenhang mit dem Südtirol-Konflikt zwischen 1961 und 1963 in Österreich geplante und/oder ausgeführte Anschläge ist dem BAS ursprünglich die Täterschaft zugeschrieben worden. Es waren dies die Explosion einer am Denkmal der Republik in Wien angebrachten Sprengladung (30.04.1961); die Sprengung es Andreas-Hofer-Denkmals in Innsbruck (01.10.1961); Schüsse auf die italienische Botschaft in Wien (08.10.1961), Anschlagsversuche am Wiener Heldenplatz (27.12.1961) und auf das sowjetische Ehrenmal („Russendenkmal“) in Wien (18.08.1962) sowie der für den Gendarmen Kurt Gruber todbringende Sprengstoffanschlag in Ebensee (23.09.1963), bei dem es zudem zwei Schwer- und neun Leichtverletzte gab.

Fälschlicherweise – denn die Taten waren von italienischen Neofaschisten bzw. von österreichischen Rechtsextremisten, die nicht dem BAS angehörten oder mit ihm in Verbindung standen, begangen worden. Ein Zusammenhang zwischen den Anschlägen und dem BAS wurde wahrheitswidrig von ideologisierten Personen sowie von (bewusst) falsch informierten/informierenden Medien in Österreich und nicht zuletzt von italienischen Stellen zur Gänze behauptet, um den BAS zu diskreditieren.

Ranghohe Diskutanten verleihen der Studie den Rang des offiziellen Standpunktes Wiens

Der Südtiroler Freiheitskampf der 1960er Jahre war letztendlich erfolgreich und hat entscheidend zur politischen Lösung des Konflikts („Paket“) beigetragen. Dies ist unlängst während einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion in Wien einmütig und eindrücklich bestätigt worden, in deren Rahmen Speckners voluminöse Studie erstmals öffentlich vorgestellt wurde. Zugegen waren neben dem vormaligen Außenminister Peter Jankowitsch (am Podium), dem ehemaligen Verteidigungsminister Helmut Krünes und dem einstigen Justizminister Harald Ofner ranghohe Vertreter des Staatsarchivs, der Präsidentschaftskanzlei sowie die Spitzen des Bundesheers und nicht zuletzt einige noch lebende Freiheitskämpfer. Zurecht schrieben daher die „Salzburger Nachrichten“, die Anwesenheit höchster Repräsentanten der Republik bei der öffentlichen Präsentation dieser die jüngere Zeitgeschichtsschreibung zuhauf korrigierenden Studie des Militärhistorikers verliehen ihr den Status des offiziellen Standpunkts Österreichs.

Autor Speckner unterstreicht, dass zum „Höhepunkt“ des Aufbegehrens der BAS-Aktivisten etwa 15.000 Angehörige italienische Soldaten zusätzlich in Südtirol stationiert wurden und somit dort die Sicherheitskräfte auf insgesamt etwa 40.000 Mann aufgestockt worden waren. Dennoch war deren Einsatz letztlich praktisch wirkungslos. Aufgrund dieses Umstands hatte der Ruf der italienischen Streitkräfte stark gelitten. Und wegen dieses Gesichtsverlusts und der enorm hohen zusätzlichen Kosten hätten in Rom letztendlich die „Tauben“ über die „Falken“ die Oberhand gewonnen, worauf auch zurückgeführt werden könne, dass unter Aldo Moro eine politische Lösung, das „Südtirol-Paket“, erreicht werden konnte. Damit und untermauert durch die übereinstimmenden Aussagen der Diskutanten während der Buchpräsentation dürfte auch die von dem Innsbrucker Zeitgeschichtler Rolf Steininger aufgestellte und wider alle Einwände von Zeitzeugen vertretene These, dass der Südtiroler Freiheitskampf kontraproduktiv gewesen sei – „Trotz und nicht wegen der Attentate wurde die 19er Kommission eingesetzt“ – als widerlegt gelten.

Die moralische Verpflichtung Roms

Auf italienischen Druck hin und aus angeblicher Staatsräson hatte Wien damals wider besseres Wissen in vielen die Südtirol-Frage bestimmenden Angelegenheiten den römischen Forderungen nachgegeben. Und zum Nachteil von Südtirol-Aktivisten war seinerzeit von beteiligten österreichischen Stellen sozusagen aus vorauseilenden Gehorsam, mitunter aber auch aus bestimmten Interessenlagen, Recht gebeugt worden. Es wäre daher nur recht und billig, dass Österreich alles unternähme, um auf die völlige Rehabilitation der in Italien zu Unrecht Verurteilten und in aller Öffentlichkeit Stigmatisierten hinzuwirken. Wien sollte zudem offensiv gegenüber Rom auftreten, damit Italien seine diese Zeit betreffenden Archivalien freigibt und seiner moralischen Verpflichtung nachkommt, der Forschung die Möglichkeit zur Revision dieses von ihm unsäglich geklitterten Kapitels auch seiner eigenen politischen Geschichte zu gewähren. Schuldig wäre es dies sowohl den fremden wie den eigenen Opfern.

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„Magna Charta“ für oder „Verrat“ an Südtirol?

geschrieben von PI am in Geschichte,Italien,Österreich | 18 Kommentare

Gruber DeGasperi2 [2]Wie kam es vor 70 Jahren in Paris zum Gruber-DeGasperi-Abkommen? Ein für Tiroler vornehmlich südlich des Brenners mit Genugtuung und Freude, aber auch mit Leid, Schmerz und Verzicht verbundener Gedenktag steht bevor und wirft seine Schatten voraus. Mit feierlichem Brimborium begeht man am 5. September den 70. Jahrestag des Gruber-DeGasperi-Abkommens [3]. Schloß Sigmundskron, die festlich herausgeputzte Lokalität im Überetsch-Gebiet, auf der die im Gefolge des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz und seines italienischen Pendants Paolo Gentiloni zusammenkommenden einschlägigen Vertreter der politischen Klasse aus Wien und Rom sowie Innsbruck, Bozen und Trient einander in gutnachbarlicher Beweihräucherung übertreffen werden, könnte symbolträchtiger kaum sein.

(Von Reynke de Vos)

DeGasperis Finte und „Los von Trient

Wo Bergsteigerlegende Reinhold Messner unter tatkräftigem Mittun des vormaligen Südtiroler Landeshauptmanns Luis Durnwalder einen von insgesamt sechs Standorten seines zugegebenermaßen imposanten „MMM“ (Messner Mountain Museum) einrichtete, damit die örtliche Firnis enthistorisierte und also ihrer Wirkkraft entkleidete, hatte weiland Silvius Magnago, der legendäre „Vater des Südtirol-Pakets“, im fernen Jahre 1957 vor 35 000 Kundgebungsteilnehmern das „Los von Trient“ propagiert. Warum „Los von Trient“? Weil der italienische Ministerpräsident Alcide DeGasperi (Foto re.)die Gültigkeit jener zwischen ihm und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber (li.) am 5. September 1946 in Paris im Rahmen der Friedenskonferenz unterzeichneten vertraglichen Autonomie-Regelung, welche eigentlich zum Schutz der Südtiroler bestimmt sein sollte, fintenreich der aus den Provinzen Bozen-Südtirol und Trient gebildeten Region zugeordnet hatte. In besagter Region Trentino-Alto Adige überwog das ethnische italienische Bevölkerungselement bei weitem, sodass die – vom „demokratischen Italien“ bis in die 1960er Jahre ohnedies wie ein Kolonialvolk behandelten Südtiroler österreichischer Volkszugehörigkeit und deutscher sowie ladinischer Ethnizität und Zunge politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, sozial und kulturell majorisiert wurden.

Bei aller Wertschätzung für das von der damaligen Lage bestimmte besonnene Handeln des „Realpolitikers“ sei festgehalten: Magnagos „Los von Trient“ – und eben nicht das „Los von Rom“, was damals mutmaßlich Wille von 90 Prozent der Südtiroler Bevölkerung und annähernd 100 Prozent des altösterreichisch-deutschen Anteils gewesen sein dürfte – bedeutete faktisch das Einschlagen eines Weges, den die Südtiroler Volkspartei (SVP) unter seiner und seiner Nachfolger Führung fortan unbeirrt weiterbeschritt. Faktisch hat sie sich seitdem nämlich sukzessive von einer Festlegung verabschiedet, unter der sie am 8. Mai 1945 gegründet wurde. Im SVP-Parteistatut ist nämlich für die Südtiroler als Ziel die (Ausübung des) Selbstbestimmung(srechts) fixiert. Im Pariser Vorort Saint-Germain-en-Laye, wo man 1919 Österreich ein Friedensdiktat auferlegte, aufgrund dessen Südtirol an Italien fiel, war die Selbstbestimmung entgegen dem Vorhaben des amerikanischen Präsidenten Wilson ebenso verweigert worden wie von den alliierten Siegermächten aufs Neue nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wofür das Abkommen vom 5. September 1946 als eine Art „Ersatzlösung“ galt.

Umstrittenes Abkommen

Das Abkommen und die Folgen, die es hervorrief, ist unter Parteien zwischen Wien, Innsbruck und Bozen je nach politischer Couleur respektive „regierender“ oder „opponierender“ Stellung wie unter Historikern und deren jeweiligem „erkenntnisleitenden Interesse“ höchst umstritten. Die auf Sigmundskron Champagnisierenden werden Elogen auf diese angebliche „Magna Charta für Südtirol“ anstimmen. Eine unlängst der (SVP-nahen) Tageszeitung „Dolomiten“ beiliegende Broschüre des Titels „70 Jahre Pariser Vertrag“, welche die nicht zur Jubelstimmung passenden, weil konterkarierenden „ewiggestrigen“ Kapitel des Südtiroler Freiheitskampfes gänzlich ausblendet, stimmte darauf bereits ein. Für andere war und ist der Vertrag – wie für Bruno Kreisky, der einst als Wiener Außenminister die Südtirol-Frage vor die Vereinten Nationen (UN) trug – ein „einmaliges Dokument österreichischer Schwäche“; gleichwohl haben sie sich damit arrangiert. Wieder andere jedoch eracht(et)en neben Inhalt und Folgen des Vertrags vor allem dessen Zustandekommen als „Verrat an den Südtirolern“.

Wie war es dazu gekommen? Laut einem Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung“ ließ DeGasperis Büro am 24. August 1945 verlauten, man werde dem Aostatal und der dortigen mehrheitlich ethnischen französischen Bevölkerung „die vollständige sprachliche Gleichberechtigung“ sowie „eine großzügige, neuartige administrative Dezentralisierung in allen örtlichen Angelegenheiten gewähren“. Die italienische Regierung beabsichtige zudem, „Maßnahmen für die östlichen und nördlichen Grenzgebiete nach dem Vorbild der dem Aostatal gewährten Autonomie auszuarbeiten und zu diesem Zweck mit den Vertretern der Bevölkerung und der örtlichen Interessen Fühlung zu nehmen“.

„Wiederherstellung der Freiheit für Südtirol“

Das dürfte den Vertretern der alliierten Siegermächte im „Rat der Außenminister“ – einer aus der Konferenz von Potsdam hervorgegangenen Einrichtung – gerade rechtgekommen sein und bereits als Signal für die Londoner Außenministerkonferenz (11. September bis 2. Oktober 1945) genügt haben, um Grubers Ersuchen rundheraus abzulehnen. Der Tiroler Landeshauptmann und Außenamtsstaatssekretär in der provisorischen Regierung unter Staatskanzler Karl Renner hatte in gleichlautenden Telegrammen an den amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman und dessen Außenminister James F. Byrnes, an den britischen Außenminister Ernest Bevin, an Charles de Gaulle, Chef der provisorischen Regierung Frankreichs und dessen Außenminister Georges Bidault sowie an den sowjetischen Generalissmus Iossif Stalin und dessen Außenminister Wjatscheslaw Molotow um „die Wiederherstellung der Freiheit für Südtirol“ sowie „Vorbereitung einer Volksabstimmung“ zwischen Brenner und Salurner Klause und um „Zulassung einer österreichischen Delegation zu den Verhandlungen“ ersucht.

In Innsbruck sprachen Gruber und sein kurzzeitiges Regierungsmitglied Eduard Reut-Nicolussi auf einer Großkundgebung vor 30 000 Menschen am 4. September 1945; in der verabschiedeten Resolution wurde die Rückkehr des südlichen Landesteils zu Tirol und Österreich gefordert. General Marie-Emil Béthouart, Kommandeur der französischen Besatzungstruppen, ließ seine Sympathie dafür offen erkennen. Am 28. September erreichte ihn allerdings ein Exposé des Quai d’Orsay, worin es hieß, wegen „der ungewissen Zukunft Österreichs angesichts einer dauerhaften sowjetischen Besatzungszone“ sei „eine Rückgabe Südtirols aus strategischen Gründen sehr gefährlich“, denn damit drohe eine „Ausbreitung der sowjetischen Einflussnahme bis zur Po-Ebene.

Wien: Selbstbestimmung und Rückgliederung

Derweil legte sich die provisorische österreichische Regierung Renner am 5. September per Kabinettsratsbeschluss auf die Forderung nach Selbstbestimmung für Südtirol fest. Sie richtete ein Memorandum an die Londoner Außenministerkonferenz, in welchem sie die „Rückgliederung Südtirols“ forderte. In London, wo es seit 11. September primär um die Behandlung des Friedenschlusses mit Italien sowie um Friedensverträge mit Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland ging, vereitelte der Brite Bevin den Vorschlag des Amerikaners Byrnes nach einschränkungsfreier Anhörung Wiens zur österreichisch-italienischen Grenze sowie Entsendung einer Untersuchungskommission. Schon am 14. September legten sich die Außenminister auf die Beibehaltung der Brennergrenze fest, wobei Byrnes eine Zusatzformel im Hinblick auf territoriale Regelungen einbrachte, in der es hieß: „Die Grenze mit Österreich wird unverändert bleiben, mit der Ausnahme, jeden Fall zu hören, den Österreich für kleinere Grenzberichtigungen zu seinen Gunsten vorbringt“.

Von alldem wusste man jedoch weder in Wien und Innsbruck noch in Bozen etwas. In Wien überreichte die Regierung Renner am 12. September dem Alliierten Rat ein „Memorandum über die Rückgliederung Südtirols an Österreich“, worin sie darum ersuchte, es möge „eine über die Zugehörigkeit dieses Gebietes endgültig entscheidende, freie Volksabstimmung angeordnet“ werden. Auf zwei Kundgebungen in Anwesenheit Renners sowie führender Vertreter der von den Besatzungsmächten zugelassenen Parteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ) wurden am 3. und am 14. Oktober Resolutionen für die Rückkehr Südtirols verabschiedet; am 5. November überreichte die Regierung dem Alliierten Rat zur Weiterleitung an die jeweiligen Regierungen ein weiteres Memorandums zur Südtirol-Frage.

Rom täuscht

Derweil bemühte sich Italien um die Forcierung seiner Interessen und Ziele. Dem auf Täuschung zielenden „Beweis guten Willens“ unter Hinweis DeGasperis auf das Aostatal diente das am 27. Oktober erlassene Gesetzesdekret 755, mit dem „deutsche Schulen in Südtirol genehmigt“ wurden. Am 4. November sprach er in Mailand von der „Notwendigkeit der Brennergrenze für die Entwicklung und Verteidigung Italiens“.

Zur österreichischen Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol hieß es in einer von italienischen Presseorganen am 20. November wiedergegebenen Verlautbarung aus Rom: „Es gibt überhaupt keine Südtiroler Frage. Alles, was sich auf Südtirol bezieht, ist eine inneritalienische Angelegenheit, die Italien in versöhnlichem Geiste lösen will.“ Und in einem am 7. Dezember in der in Bozen erscheinenden Zeitung „Alto Adige“ veröffentlichten „Offenen Brief“ des Präfekten Bruno De Angelis, eines vormaligen Faschisten, an die SVP-Führung hieß es, die italienische Regierung sei der Auffassung, dass die Südtirolfrage mittels Erlass eines Autonomiegesetztes gelöst werden sollte.

Gruber, nach der infolge Nationalratswahl vom 25. November (ÖVP 85, SPÖ 76, KPÖ 4 Sitze) gebildeten ersten regulären Regierung unter Kanzler Leopold Figl (ÖVP) nunmehr auch formell Außenminister schlug daraufhin vor, die offenen wirtschaftlichen Fragen bezüglich Südtirol „durch eine österreichisch-italienische Treuhandgesellschaft klären und lösen zu lassen“.

DeGasperi erklärte indes nach einer Kabinettssitzung am 14. Dezember, es werde eine „Kommission zur Ausarbeitung einer Verwaltungsautonomie für Südtirol“ gebildet, „die aus Vertretern beider Nationalitäten zusammengesetzt sein“ solle. Zwei Wochen später ließ er verlauten, die Provinz Alto Adige gehöre zur „geographischen Einheit Italiens“. Und: „Die Grenzen eines Staates mit 45 Millionen Einwohnern können nicht durch unbedeutende Minderheiten entschieden werden, die noch dazu zum Großteil Nazi-Anhänger waren und vor und nach dem Kriege Hitler halfen.“ Sozusagen als Kontrapunkt zur österreichischen Note an den Alliierten Rat richtete er zu Jahresbeginn 1946 an die Botschafter der Alliierten in Rom eine Note, in welcher er am Verbleib Südtirols bei Italien festhielt, zumal es „unentbehrliches Hinterland für die Industrie der Po-Ebene“ sei.

Gruber ließ daraufhin am 21. Januar 1946 dem Alliierten Rat ein Memorandum zukommen, worin er für den Fall der Rückgliederung Südtirols anbot: Verbleib der Wasserkräfte bei Italien und deren Nutzung durch österreichisch-italienische Gesellschaften; freie Wahl der Staatsbürgerschaft für die in Südtirol lebenden Italiener bei privilegierten Sonderstatus hinsichtlich Sprache und Kultur; Unterstellung Südtirols unter UN-Schutz der Vereinten Nationen; Gewährung einer Freihafenzone für Italien an der Donau. Daraufhin bekundete William B. Mack, Vertreter des britischen Foreign Office in Wien – London hatte ihn zwei Wochen zuvor bereits wissen lassen, es bestünden keine Einwände, die österreichische Regierung über die „provisorische Entscheidung“ zu informieren, dass Südtirol „mit Ausnahme kleinerer Grenzänderungen“ nicht zu Österreich zurückgelangen werde – Grubers Memorandum sei „ein großzügiger und staatsmännischer Beitrag zur Lösung des Problems“.

Bevin: Italien wichtiger als Österreich

Wiewohl im britischen Oberhaus Sympathie für eine Rückgliederung Südtirols an Österreich vorherrschte, ließ Außenminister Bevin im Unterhaus keinen Zweifel daran, dass wegen der Entwicklung hin zum „Eisernen Vorhang“, der sich, wie Winston Churchill in einer Rede dargelegt hatte, „von der Ostsee bis Triest über Europa gelegt“ habe, Italien für den Westen wichtiger sei als Österreich. Daher könne es bis auf kleinere Berichtigungen keine Grenzänderungen geben. Weder die an Kanzler Leopold Figl am 22. April in Innsbruck während einer Großkundgebung übergebenen und später nach Paris weitergereichten 155 000 Unterschriften von Südtirolern für die Wiedervereinigung Tirols noch die Forderung nach Gewährung der Selbstbestimmung, wie sie auf Kundgebungen – trotz diverser Behinderung durch italienische Stellen – in Innichen, Brixen, Bozen und Meran erhoben worden waren, konnten die Alliierten dazu bringen, wenigstens eine – selbst auch vom Amerikaner Byrnes ins Spiel gebrachte, aber von Molotow abgelehnte – Kommission zur Ergründung der Verhältnisse zu entsenden.

Auch Grubers im Auftrag Figls an die Alliierten gerichtete Bitte um Anhörung einer österreichischen Delegation blieb unbeantwortet. Derweil passte die von Nicolò Carandini, dem Botschafter in London, vorgebrachte Bekundung, wonach Italien eine „liberale und demokratische Politik betreiben“ und „lokale Autonomien“ wie im Falle Aosta installieren werde, eher zu den Plänen der Siegermächte, vornehmlich der westlichen.

Ablehnung der „Bozen-“ und der „Pustertal-Lösung“

Wiewohl er – ebenso wie die Regierung Figl – offiziell für Selbstbestimmung und Rückgliederung des ganzen südlichen Tiroler Landesteils eintrat, überreichte Gruber offenbar unter dem Eindruck, der Inhalt könne unter dem Rubrum „kleinere Grenzberichtigungen“ Wirkung entfalten, am 12. April ein geheimes, namentlich nicht gezeichnetes Memorandum an Mack. Im Wesentlichen sollte gemäß dem darin enthaltenen Vorschlag Südtirol einschließlich der Stadt Bozen – aber ohne deren während des Faschismus aus dem Boden gestampfter Industriezone und erheblichen Teilen des Südtiroler Unterlands – zu Österreich kommen. Doch dies fand ebensowenig Gehör wie seine später – formell in eine Regierungsnote gekleidete – angebotene „Pustertal-Lösung“. Sie sah dessen Rückgliederung vor, womit die direkte Verbindung Nordtirols mit (dem wegen des Grenzverlaufs abgetrennten) Osttirol möglich geworden wäre; wiewohl Mack bekundet hatte, Bevin sei bereit, Österreich zu unterstützen, sofern es Anspruch auf das Pustertal erhebe.

Am 11. Mai hatte Norbert Bischoff, Österreichs Gesandter in Paris, im Auftrag der Bundesregierung eine an die tagende Vier-Mächte-Außenministerkonferenz gerichtete Note übergeben, in der die Rückgliederung des Pustertals, des oberen Eisacktales und der Stadt Brixen als „kleinere Grenzberichtigung“ mit der Begründung der Wiederherstellung einer direkten Eisenbahnverbindung zwischen Nord- und Osttirol verlangt wurde. Am 30. April bestätigten Bidault, Byrnes, Bevin und Molotow jedoch den schon am 14. September 1945 gefassten Beschluss, „keine größeren Grenzveränderungen zwischen Österreich und Italien vorzunehmen“. Und am 1. Mai bekräftigten sie die damalige Festlegung, wonach Südtirol bei Italien bleibe und das von der Regierung in Wien sowie in mehreren auf Kundgebungen beschlossenen Resolutionen geforderte Plebiszit abgelehnt werde.

Massive Vorbehalte gegen Grubers Politik

Die Bekanntgabe bewirkte in Tirol einen allgemeinen fünfstündigen Proteststreik sowie Demonstrationen, auch in Bozen, Meran und Brixen kam es zu Protestkundgebungen. Sämtliche Glocken Tirols läuteten zum Zeichen der Trauer. In Wien demonstrierten mehr als 100 000 Menschen für die Selbstbestimmung der Südtiroler und die Rückkehr des Landesteils zu Österreich.

Derweil klammerte man sich in Südtirol an die auch von der Veröffentlichung einer Stellungnahme des Kanonikus Michael Gamper im „Volksboten“ (2. Mai) und in den „Dolomiten“ (3. Mai) genährte Hoffnung, wonach in der Festlegung der Außenministerkonferenz lediglich eine „Vorentscheidung“ zu sehen und „keineswegs das letzte Wort über Südtirol“ gesprochen sei. Auch die persönliche Vorsprache Grubers bei Bevin – aufgrund erstmaliger Einladung nach Paris und Weiterreise nach London – änderte daran kein Jota. Ins Leere ging auch sein unterdessen bekanntgewordener und von der gesamten österreichischen Regierung mittels formellen Verlangens gebilligter Vorstoß in Sachen Pustertal-Lösung – bei Aufrechterhaltung eines Rechtsvorbehalts auf Südtirol als Ganzes.

Woraufhin in einer Besprechung von Vertretern Nord- und Südtirols am 10. Juni in Innsbruck massive Vorbehalte gegen die Politik des Außenministers zum Ausdruck kamen und der stellvertretende Landesregierungschef Franz Hüttenberger (SPÖ) „den für Österreichs Außenpolitik verantwortlichen Männern“ vorwarf, sie hätten „in der Behandlung des Problems Ungeschicklichkeiten begangen, welche die gerechte Sache Südtirols ungünstig beeinflussen“. In der zwischen 15. Juni und 12. Juli zu Paris fortgesetzten Vier Mächte-Außenministerkonferenz wurde Österreichs Anspruch auf Südtirol neuerdings abgelehnt.

Im Unterhaus Protest der Konservativen gegen Bevin

Im britischen Unterhaus protestierten derweil 150 Abgeordnete (vornehmlich der Konservativen) formell gegen die Entscheidung der Außenministerkonferenz in Paris über die Belassung Südtirols bei Italien. In der Erklärung hieß es, die Abtrennung Südtirols von Österreich im Friedensvertrag von Saint Germain sei „die ernsthafteste Verletzung des von Wilson aufgestellten Grundprinzips der Selbstbestimmung der Völker gewesen“. Labour-Premier Bevin antwortete auf die enthaltene Frage, ob „Großbritannien den schmutzigen Schacher, den der Berliner Pakt zwischen Hitler und Mussolini über Südtirol dargestellte, unterschreiben wolle“, Österreich sei noch nicht frei, und man wisse nicht einmal, ob Ostösterreich nicht vom Westen ganz abgeschnitten werde. Die Entscheidung über Südtirol sei im September 1945 in London gefallen, und er habe sich einverstanden erklärt und trage dafür die Verantwortung.

Gruber kontaktiert DeGasperi

Wenngleich die SVP in einem Telegramm vom 17. Juli an das britische Oberhaus den Anspruch auf Selbstbestimmung erhob und bat, die Südtiroler dabei zu unterstützen, erklärten ihr Obmann Erich Amonn und ihr Generalsekretär Josef Raffeiner gegenüber dem Bozner Präfekten Silvio Innocenti zur Mitarbeit in der Autonomiefrage bereit. Beide dementierten allerdings später Vorhaltungen, wonach sie sich mit dessen – auf Anweisung DeGasperis – ausgearbeitetem (und letztlich zum Tragen gekommenem) Autonomieprojekt (Südtirol zusammen mit dem Trentino) einverstanden erklärt gehabt hätten, wie es Innocenti und DeGasperi in der Öffentlichkeit darstellten. Gruber ließ indes DeGasperi über den iatlienischen Botschaftssekretär Roberto Gaja wissen, er sei zu einem „Gespräch über freundschaftliche Beziehungen und der Zusammenarbeit“ bereit, woraufhin DeGasperi am 20. Juli via Gaja mitteilen ließ, dass er dazu bereit sei, wenn territoriale Fragen nicht zur Diskussion stünden.

Die Pariser Friedenskonferenz

Im Pariser Palais Luxembourg begann am 15. Juli die Friedenskonferenz; sie dauerte bis 15. Oktober 1946. Der Konferenz lagen die Entwürfe des Rates der Außenminister der Großen Vier respektive der von ihnen beauftragten Stellvertreter zu den Friedensverträgen mit Italien, Finnland, Bulgarien, Rumänien und Ungarn sowie noch nicht geklärte Fragen vor. Den insgesamt 21 Delegationen wurden vier Südtirol-Memoranden unterbreitet, in denen eine Volksabstimmung über dessen Zukunft verlangt wurde: von der österreichischen Bundesregierung; ein vom SVP-Obmann Ammon und dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Südtirols, Lorenz Unterkircher sowie vier Südtiroler Mitgliedern des letzten gewählten italienischen Parlaments und sieben Mitgliedern des letzten gewählten Südtiroler Landtags unterzeichnetes; ein drittes von Vertretern der Ladiner; schließlich das vierte vom Brixner Fürstbischof Johannes Geisler. Die SVP hatte einer – offiziell nicht zugelassenen – Südtiroler Delegation (Friedl Volgger, Otto von Guggenberg und Hans Schoefl) als Vorgabe aufgetragen: Falls kein Plebiszit durchsetzbar sei, möge man entweder auf eine „Liechtenstein-Lösung“ oder auf ein „Südtirol unter internationaler Kontrolle“ oder auf eine „Autonomie“ (allerdings nur unter den Bedingungen einer internationalen Garantie und ausschließlich für die Provinz Bozen) hinwirken.

Auftritte DeGasperis und Grubers

De Gasperi trat am 10. August vor die Friedenskonferenz und erklärte, hinsichtlich des „Alto Adige“ werde eine „weitreichende Autonomie vorbereitet“, und die Vertreter Südtirols hätten einer „Regionalautonomie bereits zugestimmt.“ Nach dem Beschluss zur Anhörung Österreichs – wogegen die Sowjetunion, Weißrussland, die Ukraine, Polen, Jugoslawien und die Tschechoslowakei stimmten – reiste Gruber nach Paris und vertrat am 21. August in seiner (zusammen mit Figl ausgearbeiteten) Rede vor der Vollversammlung der Konferenz den bekannten Standpunkt Wiens. Auch das am 25. August der Konferenz vorgelegte Südtirol-Memorandum Österreichs führte letztlich nicht zu einer Änderung der Alliierten-Position, Südtirol bei Italien zu belassen.

Es ging nurmehr um eine Autonomie-Lösung

Im weiteren Fortgang der Ereignisse stand infolgedessen nurmehr die Autonomie-Frage im Mittelpunkt aller Überlegungen. Nach einer Unterredung Grubers mit den Delegierten Belgiens, die ihm nahelegt hatten, sich um eine direkten Einigung mit Italien zu bemühen, sowie Gesprächen mit Nicolò Carandini (italienischer Botschafter In London und Sonderbeauftragter für Paris) sowie Frankreichs Außenminister Bidault verlangte Gruber von den Südtiroler Delegierten am 23. August, sie sollten ihm ihre Autonomie-Vorstellungen unterbreiten. Volgger, von Guggenberg und Schoefl brachten am 26. August ihr Missfallen zum Ausdruck, dass in dem von Gruber dem Generalsekretariat der Friedenskonferenz überreichten neuen Memorandum der österreichischen Regierung lediglich „eine Verwaltungsautonomie, wie sie Italien den Aostanern gewährt“, verlangt worden sei. Damit habe Gruber „vorzeitig alle Karten aufgedeckt“, und es werde „offenkundig, wie weit nachzugeben die österreichische Regierung bereit“ sei. Das Heranziehen der Aostatal-Autonomie als Muster kritisierten sie als „verunglückt und gefährlich“.

Dessen ungeachtet deutete Gruber gegenüber Carandini die Bereitschaft an, Innocentis Vorschläge zur Grundlage für die Autonomie zu machen; dies allerdings nur unter der Bedingung, dass sie in einigen Punkten modifiziert würden. Doch auf die von Österreich gewünschte „eindeutige territoriale Abgrenzung des autonomen Gebiets“ ließ sich DeGasperi gar nicht erst ein.

Als Carandini mit dessen unveränderlichen Instruktionen am 1. September nach Paris zurückgekehrt war, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gruber und der Südtiroler Delegation. Diese nannte den Vorschlag Carandinis (und somit DeGasperis) ungenügend und wies ihn glatt zurück.

Vertrag ohne klare Geltungsfestlegung

Nachdem Gruber die Bereitschaft bekundet hatte, die Frage der Nennung des territorialen Geltungsbereichs der Autonomie offenzulassen und keine Formel zu verlangen, die das autonome Gebiet unbedingt auf die Provinz Bozen beschränkte und Carandini sozusagen absichtsverschleiernd zusagte, nicht direkt auf die Vereinigung der beiden Provinzen hinzuweisen, war der Weg für die Unterzeichnung der Vereinbarung zwischen Alcide DeGasperi und Karl Gruber am 5. September 1946 in der italienischen Gesandtschaft zu Paris geebnet. Just die von ihm reklamierte und von Gruber zugestandene Unbestimmtheit der territorialen Geltung nutzte DeGasperi – wider sein Versprechen, die Südtiroler vor Änderungen zu hören – schamlos zugunsten der erst noch zu schaffenden Region Trentino-Alto Adige (Autonomiestatut vom 29. Januar; inkraftgetreten am 14. März 1948) aus. Weshalb das Abkommen in der Folge für fortdauerndes Misstrauen und absolut gerechtfertigte Auflehnung in Südtirol sorgte.

Erst nach zahlreichen Anschlägen, Kreiskys UN-Vorstoß 1960, welchem in den „Bomben-Jahren“ Leid und Tod, massive Vergeltungsmaßnahmen und Menschenrechtsverletzungen von Seiten Italiens folgten, kam es nach langwierigen, zähen Verhandlungen im Dreieck Wien-Bozen-Rom zum Autonomie-Paket von 1969, welches ins Zweite Statut von 1972 mündete. Und aufgrund römischen Finassierens sollte es schließlich weitere zwanzig Jahre dauern, bis am 11. Juni 1992 mit der österreichisch-italienischen Streitbeilegungserklärung vor den UN der Südtirol-Konflikt im völkerrechtlichen Sinne für beendet erachtet werden konnte. Das und die durchaus positive Entwicklung Südtirols – vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet – ändert nichts daran, dass die größte Ungerechtigkeit gegenüber den Südtirolern seit 1918/19 fortbesteht, solange ihnen nicht Gelegenheit zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gegeben ist.

Unter Historikern ist man sich zwar weitgehend einig, dass die Selbstbestimmung 1946 aufgrund der damaligen Lage und den sich herausbildenden Interessengegensätzen nicht erreichbar war. Es darf aber auch durchaus als Opinio communis gelten, was Michael Gehler (Hildesheim, früher Innsbruck) aufgrund seiner Forschungsergebnisse gegenüber einer Zeitung einmal so ausdrückte: Es wäre mehr zu holen gewesen, „Gruber hat sich viel zu schnell auf Kompromisse eingelassen; bei einer besseren Verhandlungsführung wäre durch die unablässige Forderung nach einer Volksabstimmung eine echte Autonomie im Sinne einer inneren Selbstbestimmung möglich gewesen.“

Eine „echte Autonomie“ kann die existierende, von der Rom immer wieder Scheibchen abschnitt, kaum genannt werden. Und wenn die Südtiroler nicht aufpassen, führt der von der „ewigen Regierungspartei“ SVP auf Wunsch ihres italienischen Koalitionspartners PD (Partito Democratico) eingesetzte Autonomie-Konvent – sozusagen als „Erfüllungsgehilfe“ der von der Regierung Renzi (PD) vorangetriebenen, auf Stärkung des Zentralstaats hinauslaufende Verfassungsreform – hinter die mühsam erkämpften Errungenschaften des Zweiten Statuts von 1972 zurück. Horribile dictu!

Gruber DeGasperi [4]


PI-Serie: Kleine Geschichte Südtirols

» Geschichte Südtirols 1 [5] – Prolog
» Geschichte Südtirols 2 [6] – Andreas Hofer
» Geschichte Südtirols 3 [7] – Der 1. Weltkrieg, Kriegserklärung Italiens
» Geschichte Südtirols 4 [8] – Gebirgskrieg 1915-1918
» Geschichte Südtirols 5 [9] – Faschistische Italianisierung durch Tolomei
» Geschichte Südtirols 6 [10] – Die Option
» Geschichte Südtirols 7 [11] – Feuernacht, Bomben
» Geschichte Südtirols 8 [12] – Gegenwart

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Vom „Blutsonntag“ zum „Alltagsfaschismus“ — Eine Wahl in Bozen

geschrieben von PI am in Geschichte,Italien,Österreich | 39 Kommentare

Beerdigung Franz-Innerhofers [13]Tiroler diesseits und jenseits des Brenners, die noch einen Funken Heimat- und Vaterlandsliebe im Leibe tragen sowie über ein gerüttelt Maß Geschichtsbewusstsein verfügen, gedenken in diesen Tagen eines Ereignisses vor 95 Jahren, welches als Inauguration des Faschismus in jener Nordprovinz Italiens gilt, welche es als Belohnung für seinen Seitenwechsel 1915, mithin als Kriegsbeute 1919 in St. Germain-en-Laye erhielt. Am 24. April 1921 wurde der Lehrer Franz Innerhofer in Bozen vom Schläger eines Kommandos der „fasci di combattimento“ Benito Mussolinis ermordet.

(Von Reynke de Vos)

Innerhofer hatte mit der Musikkapelle aus Marling bei Meran am Trachtenumzug anlässlich der ersten Bozner Nachkriegs-Mustermesse teilgenommen. Unter den Umzug hatten sich einige der zu einer „Strafexpedition gegen diese Manifestation des Deutschtums“ ausgerückten und in der Provinzhauptstadt versammelten 400 faschistischen Schläger (120 aus Bozen, 380 aus Trient, Brescia und Verona) gemischt und zwischen Waltherplatz und Obstmarkt ein Blutbad angerichtet.

Infolge von Schüssen und Handgranaten-Detonationen waren annähernd fünfzig Personen schwer verletzt worden. Der Vorfall ist als „Bozner Blutsonntag“ in die Annalen eingegangen.

Generalprobe „Marsch auf Bozen“

perathoner [15]Im Gedenken an das erste ohne Rücksicht auf Verluste unternommene Zuschlagen der Schwarzhemden findet auch eine zweite, von Planung, Ausführung, Umfang und Folgen weit größere derartige „Strafaktion“ ihren Platz. Es handelt sich um den „Marsch auf Bozen“ (1./2. Oktober 1922), sozusagen um die Generalprobe für den „Marsch auf Rom“ am 27. Oktober, im Zuge dessen es zur Machtübernahme Mussolinis am 30. Oktober 1922 kam. Es war der Anfang vom Ende der unter Bürgermeister Julius Perathoner stehenden effizienten Verwaltung sowie des über Jahrhunderte währenden deutschen Charakters der Stadt. Perathoner, von 1901 bis 1911 Reichsratsabgeordneter in Wien, von 1902 bis 1907 Landtagsabgeordneter in Innsbruck und letzter deutscher Bürgermeister Bozens, war 1895 gewählt und im Oktober 1922 seines Amtes enthoben worden.

Schon die faschistischen Horden des „Blutsonntags“ hatten in Sprechchören seinen Rücktritt verlangt. Wie im Jahr zuvor beugte er sich weder dem am 29. September 1922 von der Bozner Fascio-Ortsgruppe ultimativ erhobenen Rücktrittsverlangen noch der Aufforderung, die Kaiserin-Elisabeth-Schule, damals größte und modernste Schule der Stadt, für den Unterricht in italienischer Sprache zur Verfügung zu stellen. Daraufhin marschierten am 1. Oktober 1922 unter Führung Achille Staraces, des späteren Generalsekretärs des Partito Nazionale Fascista (PNF; Faschistische Partei Italiens), mehrere Hundert Gefolgsleute Mussolinis aus Oberitalien in Bozen ein, besetzten die Schule, stürmten am 2. Oktober das Rathaus, hissten die italienische Tricolore und verkündeten: „Es gibt nur ein Gesetz, und das heißt Italien!“ Hausherr Julius Perathoner wurde daraufhin von der zu diesem Zeitpunkt noch demokratischen römischen Regierung unter dem (schwachen) Liberalen Luigi Facta per Dekret in vorauseilendem Gehorsam abgesetzt und später durch einen faschistischen Amtsbürgermeister (Podestà) ersetzt.

Italianisierungspolitik vor und nach 1945

Mit der Machtübernahme Mussolinis nach dem „Marsch auf Rom“ proklamierte der als Namenfälscher in die Geschichte eingegangene Nationalist und Faschist Ettore Tolomei, der sich schon 1905 in Glen bei Montan im Südtiroler Unterland niedergelassen und das „Archivio per l’Alto Adige“ gegründet hatte, in Bozen ein im Auftrag Mussolinis ausgearbeitetes Programm zur „Re-Italianisierung“ des Landes. Es umfasste die Entnationalisierung der Südtiroler und die Ansiedlung von (Süd-)Italienern im Bozner Becken. Der Unterricht in deutscher Sprache wurde verboten, das deutschsprachige Lehrpersonal in italienische Provinzen versetzt.

gamper [16]

Deutschunterricht konnte nur noch geheim in „Katakombenschulen“ erteilt werden, welche maßgeblich von Kanonikus Michael Gamper (Foto) organisiert worden waren, dessen 60. Todestags man ebenfalls soeben in Südtirol gedachte. Dekretiert wurde der ausschließliche Gebrauch meist künstlich geschaffener italienischer Ortsnamen Tolomei’scher Prägung sowie deutscher Familiennamen in italianisierter Form bis hin zu Grabsteinaufschriften. Der Name Tirol wurde verboten, sämtliche wirtschaftlich-sozialen Verbände, alle Vereine wurden aufgelöst.

Die Italianisierungspolitik wurde durch die massive Ansiedlung von Italienern aus anderen Gebieten des Stiefels mit dem Ziel verstärkt, die Deutschtiroler in die Minderheit zu drängen. Ein Verfahren, das auch „demokratische“ Nachkriegsregierungen Italiens trotz der im 1946 zwischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Regierungschef Alcide DeGasperi geschlossenen Pariser Abkommen zugesicherten politischen Selbstverwaltung und kulturellen Autonomie fortführten, welches auch die aus dem zwischen Hitler und Mussolini am 21. Oktober 1939 getroffenen Optionsabkommen zur Umsiedlung von Südtirolern ins Reich entstandenen Verwerfungen allmählich wieder ausgleichen sollten. Gegen die Nichtgewährung der Selbstbestimmung, die weitere Ansiedlung von Italienern sowie die damit beabsichtigte ethnische Majorisierung der Provinz, vor allem deren Hauptstadt, begehrten nicht wenige Südtiroler in den 1950er und 1960er Jahren auf. Und beherzte Idealisten um Sepp Kerschbaumer, den charismatischen Gründer des „Befreiungsausschusses Südtirols“ (BAS), machten durch gezielte Anschläge auf „Volkswohnbauten“ und andere italienische Einrichtungen die Weltöffentlichkeit auf die faktische neofaschistische Politik Italiens aufmerksam, um den zurecht befürchteten „Todesmarsch der Südtiroler“ – so der Titel des Leitartikels des Michael Gamper in der Tageszeitung „Dolomiten“ vom 28. Oktober 1953“ – abzuwenden. Wofür sie in Carabinieri-Kasernen gefoltert und in menschen- sowie strafrechtlich fragwürdigen Gerichtsverfahren zu langjährigem Freiheitsentzug verurteilt und ihre Familien kollektiv mitbelangt wurden.

Autonomie statt Selbstbestimmung

Nicht zuletzt durch Eingreifen Österreichs – hier vornehmlich des Sozialisten Bruno Kreisky, der das Verhalten Italiens vor den Vereinten Nationen (UN) anprangerte – konnte in langwierigen Verhandlungen mit dem hinterlistigen und störrischen Rom schließlich ein Modus vivendi ausgehandelt werden. Ergebnis war das 1972 inkraft getretene Zweite Autonomiestatut, ein statutarischer Rechtsrahmen für die Provincia Autonoma di Bolzano – Alto Adige (Autonome Provinz Bozen-Südtirol). Weitere zwanzig Jahre sollten verstreichen, bis der seit Ende des Ersten Weltkriegs bestehende Südtirol-Konflikt von Wien und Rom im völkerrechtlichen Sinne für beigelegt erklärt werden konnte.

Das kann – trotz allseits volltönend propagierter „Modellhaftigkeit“ für andere Minderheiten – natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Grundkonflikt, nämlich die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Südtiroler, ungelöst ist. Es ist auch eine Illusion zu glauben, der von Mussolini und seinen Adepten erzeugte Ungeist sei ausgelöscht. Nein, in den Köpfen vieler Italiener Südtirols lebt er fort und tritt in semi-, post-, neo- oder kryptofaschistischer Form und Gestalt in Erscheinung. Womit sich just der Kreis zur „Hauptstadt“ und ihrer Geschichte seit nunmehr bald hundert Jahren schließt.

Semi-, Post-, Neo- oder Kryptofaschisten

Für 8.Mai steht die Wahl eines neuen Kommunalparlaments für Bozen an. Dass der „befreiende“ 8. Mai 1945 für die terminliche Bestimmung des Urnengangs der Wahlberechtigten unter den 105000 Bewohnern (laut offizieller „Sprachgruppen“-Zugehörigkeit 73,8 Prozent italienisch; 25,5 Prozent deutsch; 0,7 Prozent ladinisch) eine Rolle gespielt haben könnte, dürfte angesichts der am Zusammenfluss von Eisack und Etsch weithin anzutreffenden Geschichtsignoranz auszuschließen sein. Auch der „Blutsonntag“ von einst ist, wie eingangs festgestellt, allenfalls für ein paar geschichtsbewusste Patrioten ein Begriff. Gleichwohl bietet sich für alte und neue, offene und verkappte „Mussolinisti“ der „Marsch auf Bozen“ von anno 1922 als Metapher für ihr nie aufgegebenes Ziel, die einstige Kriegsbeute so total der Italianità anzuverwandeln, dass von seinem deutsch-österreichischen Charakter und seiner tirolischen Ausprägung nichts mehr bleibt.

Bozen mit seinen unsäglichen, das Mussolini-Regime verherrlichenden Relikten – „Siegesdenkmal“ und monumentales, erst 1957 (!) fertiggestelltes „Duce“-Fries am Finanzamt, vormals „Casa del Fascio“ [„Haus der Faschisten(-Partei] – ist entgegen allen Befunden und Schwüren multiethnischen Miteinander(leben)s (Convivenca) nach wie vor ein Hort jener Kräfte, die zwischen übersteigertem italienischen Nationalgefühl und offen zur Schau getragenem, lauthals hinausposaunte Fascio-Gebaren changieren. Weltanschauliches Sendungsbewusstsein tritt bei den einen eher verdeckt-unterschwellig, bei den anderen offen zutage. Mal operieren sie weltschmerzklägerisch verbal mit angeblicher „Unterdrückung im eigenen Lande“, mal spielen sie sich gönnerhaft als kulturell-ästhetische Norminstanzen auf. Und pochen stets auf „Siamo in Italia“ („Wir sind hier in Italien“).

Unterstützung von außen

Aus der EUropäischen Flüchtlingskrise dürften die italienischen Parteien der äußersten Rechten, so und zersplittert und/oder fraktioniert sie trotz neuerdings geltender Fünf-Prozent-Klausel gegenwärtig auch auftreten, bei der Bozner Wahl besonders Honig saugen können. Der gemeinsame Auftritt des Gründers und Führers der neofaschistischen Partei Forza Nuova (FN) Roberto Fiore – er löste die Duce-Enkelin Alessandra Mussolini im Europäischen Parlament ab – mit dem deutschen NPD-Funktionär Uwe Meenen gegen die „Flüchtlingsinvasion“, zu dem sich Fußvolk aus Trient, Rimini und Vicenza einfand, darf als „grenzüberschreitende“ Stimulanz für die wahlkämpfenden Bozner „Kameraden“ gelten. Die Unterstützung von außen richtet sich gleichermaßen an die Funktionäre beiderlei (neu-)faschistischer Provenienz. Zum einen an die moderate(re)n, samtpfötiger auftretenden vom Schlage eines Giorgio Holzmann. Der chamäleonhaft verwandelte Alt-Neofaschist führt den italienischen Rechtsblock „Alleanza per Bolzano“. Zum andern an die von nicht wenigen Jungwählern unterstützten radikale(re)n Neu-Neofaschisten des Maurizio Puglisi Ghizzi und dessen „Alter Ego“ Andrea Bonazza, Ratsmitglied bis zur Auflösung des Bozner Stadtparlaments. Ghizzi ist Bürgermeisterkandidat der nach dem amerikanischen Schriftsteller und glühenden Mussolini-Verehrer Ezra Pound benannten, dezidiert faschistischen Bewegung „Casa Pound“, deren Mitglieder bisweilen durchaus von „Strafaktionen“ à la „fascio di combattimento“ unseligen Angedenkens träumen mögen.

Schulterzuckende Gleichgültigkeit

Mit Ausnahme der ziemlich chancenlosen Süd-Tiroler Freiheit (STF) und ihres Bürgermeisterkandidaten Cristian Kollmann verhalten sich alle anderen zur Kommunalwahl antretenden deutschtiroler und italienischen Parteien links und rechts der Mitte, einschließlich der „interethnischen“ Grün-Alternativen/Verdi, gegenüber Holzmann und – vor allem – Ghizzi so schulterzuckend gleichgültig, als ob es das Normalste von der Welt wäre, was sie vertreten und propagieren. Das gilt auch und gerade für Christoph Baur, den Spitzenkandidaten der Südtiroler Volkspartei (SVP): Wenngleich ihm „extreme Positionen zuwider“ seien, wie sie vor allem „italienische Rechtspopulisten“ verträten, könne er sich „eine Koalition mit allen Parteien vorstellen“. Dies mag Symptom genug dafür sein, dass der Vorwurf all derer, die in Opposition dazu stehen, nicht länger als Unkenruf abgetan werden kann, wonach die Gewöhnung an einen Zustand, den sie „Alltagsfaschismus“ nennen, bereits weit fortgeschritten sei. Die immer augenfälligeren Arrangements mit den zusehends italienisch bestimmten Daseinsgegebenheiten in Bozen sind mehr als ein politisch-gesellschaftliches Ärgernis -sie sprechen dem Opfergang des von Ahnherrn der heutigen Faschisten umgebrachten Franz Innerhofer sowie allen Südtiroler Freiheitskämpfern Hohn.

(Das Foto oben zeigt das Begräbnis Franz Innerhofers)

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Geschichte Südtirols 8 – Gegenwart

geschrieben von kewil am in Geschichte,Italien,Zeitgeschichte,Österreich | 27 Kommentare

südtirol [17]Eigentlich ist es ein Wunder, wie sich Südtirol seit den Bombenanschlägen in den sechziger Jahren entwickelt hat. Es kam nicht zu einem Dauerkonflikt wie in vielen Teilen der Welt in solchen Fällen, sondern zu einem friedlichen Fortschritt. Es gab neue Autonomiestatute und gesetzliche Verbesserungen, darunter ein Proporzsystem, nach dem zum Beispiel Beamte und Wohnungen entsprechend dem Bevölkerungsanteil verteilt werden mußten. Gerade diese Proporzsysteme – die jetzt in Deutschland auch drohen – sind eigentlich des Teufels. In Südtirol gab es Streit unendlich zwischen Italienern und Tirolern und trotzdem: irgendwann haben sich zwei zivilisierte Kulturnationen geeinigt und leben nun friedlich zusammen.

Meran 18.Jhdt

Geholfen hat natürlich in diesen Jahren immer die Wirtschaft! Tourismus ohne Ende vom Norden her, aber genauso vom Süden, plus die anderen Vorteile des alten Kulturlandes verfehlten ihre Wirkung nicht. Und wenn es der Wirtschaft und damit den Menschen gutgeht, ist der Protest meist ziemlich stumm. Genau das hat sich aber in den letzten fünf Jahren geändert. Italien steckt tief in der Euro- und Finanzkrise, sucht nach Geld, und die Südtiroler merken, wie die Autonomie immer mehr ausgehöhlt wird und wie es von Rom um seine Einnahmen betrogen wird. Jetzt im Jahre 2013 will ein beträchtlicher Teil [18] der Südtiroler wieder weg von Rom!

Dazu kommt: Die Südtiroler Volkspartei (SVP), die jahrzehntelang mit absoluter Mehrheit umsichtig die Geschicke des Landes bestimmt hatte, drehte sich immer mehr in eine politkorrekte, rötlich-grüne Richtung, wie die Grünen auch – der Bergsteiger Messner aus dem Villnößtal ist z.B. so ein Öko-Yeti. Sprich: gegen die Einwanderung von Rumänen oder den Bau von Moscheen fällt der SVP zunehmend nichts Gescheites, Handfestes mehr ein! Andreas Hofer ist bei denen längst tot, die EUdSSR regiert in ihren Köpfen!

Dagegen wehren sich andere wie die getreue Eva Klotz und die Schützen zum Beispiel, siehe einen Stimmungsbericht vor den [19] Wahlen hier. Und so gingen die letzten Wahlen im Oktober auch aus. Der Trend „Los von Rom“ [20] wurde bestätigt!

Wie es weitergeht, wer will das prophezeien? Da aber unserer Ansicht nach die Euro-, Finanz- und Schuldenkrise anhalten wird und sich in Italien die Unruhen verstärken, dürften auch die Autonomiebestrebungen noch zulegen. Und sollte es etwa den Katalanen gelingen, weg von Spanien zu kommen – die Südtiroler beobachten andere Autonomiebewegungen genau -, dann wird das südlich vom Brenner Folgen haben.

Rosengarten

Es wäre ein glänzender Sieg der Gerechtigkeit, wenn dieses schöne Land, das vor beinahe 100 Jahren völlig rechtlos mit dem Segen der Alliierten von Italien annektiert wurde, wieder zum österreichischen Tirol käme oder frei und unabhängig würde. Mander, s’isch Zeit!

Vorangegangene Teile:

» Geschichte Südtirols 1 [5] – Prolog
» Geschichte Südtirols 2 [6] – Andreas Hofer
» Geschichte Südtirols 3 [7] – Der 1. Weltkrieg, Kriegserklärung Italiens
» Geschichte Südtirols 4 [8] – Gebirgskrieg 1915-1918
» Geschichte Südtirols 5 [9] – Faschistische Italianisierung durch Tolomei
» Geschichte Südtirols 6 [10] – Die Option
» Geschichte Südtirols 7 [11] – Feuernacht, Bomben

Finis!

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Geschichte Südtirols 7 – Feuernacht, Bomben

geschrieben von kewil am in Italien,Zeitgeschichte,Österreich | 28 Kommentare

Siegmundskron [21]Nach dem Zweiten Weltkrieg beanspruchte Österreich wieder das ganze Tirol, aber den meisten war vermutlich klar, daß sich die Grenzen Italiens im Norden nicht verschieben würden. Wie hätte denn den Siegermächten das Schicksal eines kleinen Volkes wichtig sein sollen. Gleich am 8. Mai 1945 wurde die Südtiroler Volkspartei (SVP) gegründet, christlich-sozial und konservativ aufgestellt, die von Anfang an nicht zwischen “Dableibern” und “Optanten” unterschied. Man sollte nicht vergessen, daß die Letzteren 1945 de jure ausgebürgerte Deutsche waren, und die Italiener zeigten wenig Neigung, sie wieder aufzunehmen – die Tiroler allerdings schon.

Es war ein Ziel, die Ausgewanderten wieder heimzuholen. Ansonsten wollten die Südtiroler soviel Selbstbestimmung wie möglich, die Italiener so wenig wie möglich. Immerhin kam es am Rande der Pariser Außenministerkonferenz 1946 zum sogenannten Gruber-De-Gasperi-Abkommen [22], in dem den Südtirolern (und Österreich) einige Rechte eingeräumt wurden – auf dem Papier, denn Italien hatte keineswegs Änderungen der Lage im Sinn, und es förderte nach wie vor den Zuzug von Italienern, speziell nach Bozen. Zudem war Südtirol verwaltungstechnisch mit dem italienischen Trentino zusammengelegt worden, was die Leute verärgerte und zunächst zur populären Forderung “Los vom Trentino” führte. Später hieß es dann ’Los von Rom’.

Es kam zu Protesten und großen Demonstrationen, die bereits in den fünfziger Jahren – 57 auf Schloss Sigmundskron [23], verlangte unser Volk das Los von Rom (Foto oben) – vom späteren Landeshauptmann und Obmann der SVP, Silvius Magnago [24] (Foto), mit angeführt wurden, dem verdienstvollsten und überragendsten Südtiroler Politiker zwischen 1947 und 1991. Die Italiener blieben aber hart, an Autonomie oder irgendeine Selbstbestimmung war damals jedenfalls nicht zu denken. Die Unzufriedenheit im Land wuchs immer mehr. (Foto: Knüppelsonntag Bozen 1960)

Knüppelsonntag Bozen 1960 [25]

Schließlich wurde der Widerstand gewalttätig [26], einige Südtiroler legten Bomben, zunächst an Hochspannungsmasten und faschistische Denkmäler, dann gab es auch Tote.

Feuernacht [27]

Hier wäre zu nennen der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) [28] mit Anführern wie Sepp Kerschbaumer [29] oder Luis Amplatz [30]. Es kam zur Feuernacht [31], bzw. der Herz-Jesu-Nacht [32], in der die Stromversorgung in die Industriezone Bozens lahmgelegt wurde. In Südtirol wurden 37 Hochspannungsmasten, zwei Hochdruckleitungen und mehrere Eisenbahnmasten gesprengt

Die Bombenserie dauerte hauptsächlich von 1956 bis 1969. Inwieweit der Terror genützt hat, ist geschichtlich umstritten. Aber das Südtirolproblem kam in dieser Zeit mehrmals bis vor die UNO nach New York. Ohne Bomben wäre das nicht geschehen. Wikipedia zählt [33] 21 Tote, davon 15 Staatsvertreter, 2 Zivilisten und 4 Freiheitskämpfer (auf Italienisch Terroristen), die bei der Vorbereitung einer Bombe zerrissen wurden, und 57 Verletzte: 24 unter den Staatsvertreter und 33 Zivilisten.

Südtiroler Freiheitskämpfer [34]

Auch die Italiener setzten verbotene Methoden ein, folterten Gefangene in den Carabinieri-Kasernen schwer und ermordeten drei, die Haftstrafen waren äußerst lang. In dieser verhärteten Situation, vor gerade mal 50 Jahren, hätte sich niemand die spätere Entwicklung des Landes vorstellen können.

Reschensee [35]

Exkurs: Daß die Hochspannungsmasten als erstes ins Visier der Südtiroler Bombenleger gerieten, ist kein Zufall. Die Südtiroler hat es immer geärgert, daß die in Strom verwandelte Wasserkraft ihres Landes  stracks in die oberitalienischen Industriezentren abgeleitet wurde. Ein Beispiel ist der Kirchturm am Reschenpass (Foto), der noch an das Dorf Graun erinnert, das um 1950 zwangsweise gesprengt und im Stausee ertränkt wurde. Auch wenn ich schon hundertmal in bester Stimmung und mit Urlaubsvorfreuden an der malerischen Stelle vorbeigefahren bin, die Geschichte des Stausees ist eigentlich traurig! [36] Die nächste Folge ist die letzte und geht bis in die Gegenwart. Vorangegangene Teile:

Geschichte Südtirols 1 [5] – Prolog
Geschichte Südtirols 2 [6] – Andreas Hofer
Geschichte Südtirols 3 [7] – Der Erste Weltkrieg, Kriegserklärung Italiens
Geschichte Südtirols 4 [8] – Gebirgskrieg 1915-1918 >
Geschichte Südtirols 5 [9] – faschistische Italianisierung durch Tolomei
Geschichte Südtirols 6 [10] – Die Option

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Geschichte Südtirols 6 – Die Option

geschrieben von kewil am in Geschichte,Italien,Österreich | 20 Kommentare

Hitler-Mussolini [37]Die Lage der Südtiroler unter dem Faschisten Ettore Tolomei blieb – wie im letzten Kapitel [9] beschrieben – schlimm. Österreich bemühte sich, ab und zu politisch zu helfen, das Land war aber zu schwach, um bei Mussolini nennenswerte Erleichterungen zu erreichen. Umso mehr fiel den Südtirolern der Aufstieg der zweiten faschistischen Macht in Europa auf: Deutschland unter Hitler. Hier war eine Partei und ein Diktator, der viel von deutschem Volkstum redete. Konnte es nicht sein, daß vielleicht er eine Änderung der Grenzen befürwortete? Speziell beim Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich 1938 stieg die Hoffnung, von Italien loszukommen, steil nach oben.

In der Tat hatte es in der NSDAP immer wieder Stimmen gegeben, welche Südtirol bei Österreich oder Deutschland sahen. Hitler hatte aber aus unerklärlichen Gründen für Südtirol von Anfang an nie etwas übrig, und er lehnte ein diesbezügliches Engagement immer ab. Mussolini auf der anderen Seite war jahrelang ein Freund der Franzosen und Engländer gewesen. Erst ab 1936 wendete er sich Deutschland zu. Hitler hatte im Gegenzug die Gültigkeit der italienischen Grenze am Brenner nie bezweifelt. Und keine zwei Monate nach dem Anschluß Österreichs besuchte Hitler am 3. Mai 1938 Italien und bestätigte die Grenzen noch einmal feierlich. Eine Enttäuschung für Südtirol! Dafür rückte aber ein anderer Gedanke wieder nach vorn: die Umsiedlung der deutschen Südtiroler ins Reich. Am 23. Juni 1939 (endgültige Übereinkunft am 21.10.1939) einigten sich Italien und das Dritte Reich, die Südtirolfrage ein für allemal zu lösen, indem die Einwohner optieren konnten, ob sie nach Deutschland auswandern oder in Italien bleiben mochten. Bis zum Jahresende mußte man sich entscheiden; der Zweite Weltkrieg verlängerte dann aber die Fristen.

Diese schlimme „Option“, [38] zwischen zwei faschistischen Staaten wählen zu müssen, führte zu viel bösem Blut und einer ganz tiefen Zerrissenheit im Land bis hinein in einzelne Familien und ist bis auf den heutigen Tag teilweise nicht vernarbt. Die „Optanten“, also die „Geher“, unterstützt vom Völkischen Kampfring Südtirol (VKS), wollten nicht länger italianisiert und drangsaliert werden, sondern deutsch bleiben, wobei auch Nazipropaganda verwendet wurde. Es gab zudem Gerüchte, daß die „Dableiber“ nach Süditalien zwangsumgesiedelt würden. Im Reich war Arbeit garantiert, in Italien Arbeitslosigkeit wahrscheinlich.

Die Nazis hatten auch Pläne, die Südtiroler geschlossen auf der Krim oder sonstwo im Osten anzusiedeln, so daß sie unter sich gewesen wären, was die Gegner wiederum als Hirngespinste abtaten. Südtirols katholisch-konservative Politiker wie etwa Michael Gamper [39], sprachen sich jedenfalls gegen die Option aus, rieten zum Bleiben und redeten davon, daß auch die “Dableiber” Deutsche sein könnten. Die meisten Einwohner trauten aber den Italienern nicht über den Weg. So wählten schließlich in der Provinz Bozen 85% von 250.000 Menschen die Auswanderung nach Deutschland. Die Zahl der Optanten war so hoch, daß die italienischen Faschisten eine Entvölkerung der Alpentäler befürchteten und bremsen wollten. Nachdem sie aber deshalb Werbung fürs Dableiben betrieben, wählten gleich noch mehr mißtrauische Südtiroler die Abreise. Hauptgrund der Geher dürften die Erfahrungen der letzten 20 Jahre gewesen sein.

optanten-südtirolWie erwähnt platzte diese große Umsiedlungsaktion mitten in den Zweiten Weltkrieg, wodurch alles durcheinander und ins Stocken geriet. Insgesamt sind nur um die 70.000 Menschen abgewandert, wovon gleich die Hälfte in Nordtirol, andere sonstwo auf  österreichischem Gebiet (Ostmark) Halt machten. Die Männer mußten natürlich für Deutschland in den Krieg.

Als Mussolini 1943 gestürzt wurde, kam die Operation ganz zum Erliegen. Die Deutschen besetzten Südtirol und behielten es unter Verwaltung, auch nachdem sie Mussolini wieder in den Sattel gehievt hatten und die Republik von Salò [40] am nahen Gardasee gegründet worden war. Einige der oben erwähnten konservativ-katholischen Politiker (Andreas-Hofer-Bund) [41], die für Dableiben gestimmt hatten, wurden verfolgt und sogar ins KZ gesteckt.

Ansonsten geriet Südtirol in den letzten Kriegsjahren von 1943 bis 1945 wegen der wichtigen Verkehrswege bald ins Visier der alliierten Bomber. Und die deutsche Seite zwang nun die männliche deutschsprachige Bevölkerung der Dagebliebenen ebenfalls in die Wehrmacht und Polizeiregimenter, die der SS angegliedert waren. Das Verhältnis zwischen Italienern und Deutschen in Südtirol blieb aber in diesen zwei letzten Kriegsjahren durchaus erträglich. Es bildeten sich sogar Widerstandsgruppen gegen die Naziherrschaft im Land. Von irgendwelchen Massakern oder Racheakten auf Südtiroler Boden vor und nach Kriegsende, von welcher Seite auch immer, liest man nichts. Nach dem Krieg kehrten über 20.000 der “Optanten” wieder zurück nach Südtirol, das aber nach wie vor zu Italien gehörte.

Bozen im Krieg [42]Das Foto zeigt Bozen im Krieg.

Bisherige Beiträge:

» Geschichte Südtirols 1 [5] – Prolog
» Geschichte Südtirols 2 [6] – Andreas Hofer
» Geschichte Südtirols 3 [7] – Der Erste Weltkrieg, Kriegserklärung Italiens
» Geschichte Südtirols 4 [8] – Gebirgskrieg 1915-1918 >
» Geschichte Südtirols 5 [9] – faschistische Italianisierung durch Ettore Tolomei

(Der nächste Teil beginnt mit der Zeit nach 1945!)

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Geschichte Südtirols 5 – brutale faschistische Italianisierung durch Ettore Tolomei

geschrieben von kewil am in Geschichte,Italien,Österreich | 38 Kommentare

bergbauern [43]1918 erschien die Möglichkeit, daß der Brenner Italiens Grenze werden könnte, den Menschen in Tirol unvorstellbar. Das Londoner Geheimabkommen [44] von 1915 (Italy shall obtain the Trentino, Cisalpine Tyrol with its geographical and natural frontier) war zwar durchaus bekannt geworden, aber Woodrow Wilson, der Präsident der inzwischen mächtiger gewordenen USA, hatte am 8. Januar 1918 sein berühmtes 14-Punkte-Programm [45] bekanntgegeben, und in Punkt 9 stand dort, daß die zukünftigen Grenzen Italiens entlang klar erkennbarer Nationalitätslinien verlaufen sollten (A readjustment of the frontiers of Italy should be effected along clearly recognizable lines of nationality). Und diese Nationalitäts- und Sprachgrenzen waren im südlichen Teil Tirols, etwa an der Salurner Klause, völlig klar und überdeutlich. Weder Wilson noch die anderen Siegermächte hielten jedoch diese Punkte oder das mehrmals verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker ein.

Und wie beim Diktat von Versailles [46] die Deutschen absolut nichts zu sagen hatten, so ging es den Österreichern 1919 beim Vertrag von Saint-Germain [47]. Auch sie durften an den Verhandlungen nicht teilnehmen und mußten zwangsweise unterschreiben. Italien bekam mit dem Recht des Siegers Istrien, Südtirol, Welschtirol und das Kanaltal, wobei italienische Sozialdemokraten die Annexion Südtirols ablehnten. Eine Volksbefragung fand nie statt.

Dies war ein harter Schlag! Im eigentlichen Südtirol (ohne Trentino/Welschtirol) lebten zu der Zeit zirka 200.000 Deutsche und 10.000 Ladiner [48], der Anteil der Italiener lag unter 10 Prozent. Der italienische Staat ging sofort daran, dies zu ändern. Das Militär war bereits bei der Kapitulation 1918 eingeströmt. Zwar hatten die italienischen Abgeordneten und der König Viktor Emmanuel III. [49] feierlich versprochen, der anderssprachigen Bevölkerung autonome Selbstverwaltung einzuräumen, aber eingehalten wurde davon nichts. Im Gegenteil.

Die beherrschende Gestalt in Südtirol wurde für die nächsten zwanzig Jahre Ettore Tolomei [50], italienischer Irredentist, Nationalist und Faschist. Seit der Jahrhundertwende hatte er die Brennergrenze im Visier gehabt. Auf dieses Ziel arbeitete er in wechselnden Posten und Gremien Tag und Nacht unermüdlich hin. Dazu suchte er unablässig und bienenfleißig wissenschaftlich zu beweisen, daß dieses Land eigentlich schon immer italienisch gewesen sei.

Seine schärfsten Waffen waren Geschichte, Geographie und Sprache. Überall suchte er bereits vor und während des Ersten Weltkrieges nach Spuren des Italienischen in Tirol. Und er fand und erfand die Italianità auch buchstäblich hinter jedem Stein. So bestieg er beispielsweise einen Berg, sagte wahrheitswidrig, er sei Erstbesteiger, und gab ihm einen italienischen Namen. Und Tolomei schrieb und verfaßte Bücher und Abhandlungen und Artikel. Und die fanden dankbare Leser, besonders bei Irredentisten und Faschisten.

PfitschSchon vor Mussolinis Marsch auf Rom 1922 war es zu faschistischen Übergriffen in Südtirol wie dem Bozner Blutsonntag [51] gekommen. Nachdem aber Mussolini herrschte, brauchte Tolomei keine pseudowissenschaftlichen Bücher mehr, nun konnte er als faschistischer Senator regieren und befehlen. „Ein Schrei genügt und wir haben diesen schweinischen Abschaum eines überständigen Österreich hinweggefegt“, ließ er verlauten, nachdem er mit seinen Schwarzhemden das Bozner Rathaus gestürmt hatte. Schließlich wurde am 15. Juli 1923 sein schon lange ausgearbeitetes 32-Punkte-Programm [52]zur Italianisierung des deutsch besiedelten Gebietes verkündet. Tolomei sah als wichtigste Maßnahmen vor:

Einführung der italienischen Amtssprache, Italianisierung aller Ortsnamen und Aufschriften, großzügige Förderung des italienischen Schulwesens und der Einwanderung von Italienern, Verstärkung der in diesem Raum stationierten Militär- und Carabinierieinheiten, Ernennung italienischer Gemeindesekretäre und Entlassung bzw. Versetzung deutscher Beamter und Lehrer nach Reichsitalien, Ausschaltung der von Einheimischen kontrollierten Wirtschaftseinrichtungen (Banken, landwirtschaftliche Genossenschaften) sowie Auflösung der Verbände und Vereine (Deutscher Verband, Alpenverein).
Das von Tolomei formulierte Programm wurde in den folgenden fünf Jahren mit wenigen Modifizierungen verwirklicht. Der öffentliche Gebrauch des Namens Tirol und aller damit zusammengesetzten Begriffe (Südtiroler usw.) wurden untersagt. Provisorisch tolerierte man die Bezeichnung Alto Adige (Hochetsch); Es durften nur noch die zum größeren Teil von Tolomei erfundenen italienischen Ortsnamen verwendet werden. Mit Beginn des Schuljahres 1923/24 wurde stufenweise ab der 1. Klasse die italienische Unterrichtssprache in den Volksschulen dekretiert und zur gleichen Zeit die italienische Amtssprache eingeführt.

Dementsprechend kam alsbald eine größere Zahl italienischer Beamter und Lehrer ins Land, die weder imstande waren, sich mit den Kindern zu verständigen, noch für die besondere Lage der Deutschen Verständnis aufbrachten. Private deutsche Schulen wurden verboten, ja sogar der private Deutschunterricht seit 1925 strengstens verfolgt. Nachdem zuerst überall italienische Gemeindesekretäre eingesetzt worden waren, verloren die Gemeinden den Rest ihrer Autonomie, als 1926 an die Stelle der gewählten Bürgermeister ein Podestä als staatlicher Beamter. (Josef Riedmann, Geschichte Tirols, Wien 2001, S. 241)

Selbstverständlich wurde auch die deutschsprachige Presse erledigt, einzig und allein die kirchlichen Predigten in Deutsch und den deutschsprachigen Religionsunterricht, der privat in Pfarrhäusern gegeben wurde, konnten die Faschisten nicht unterbinden! Siehe auch ‘Katakombenschulen’! [53] Ansonsten war Widerstand gegen den Totengräber Südtirols [54] unmöglich. Verhaftungen und Verbannung waren die Folge.

Eine weitere Methode der Faschisten bestand darin, möglichst viele Italiener ins Land zu holen. Neben den allgegenwärtigen Beamten dachte man auch an Süditaliener als Bergbauern, ein Experiment, das kläglich scheiterte. Viel erfolgreicher war die Ansiedlung von Industrie in den dreißiger Jahren, vor allem in Bozen. Ohne Rücksicht darauf, ob es wirtschaftlich sinnvoll war, wurden Firmen mit Prämien nach Südtirol gelockt und dazu Süditaliener als Arbeiter. Das Gelände für Fabriken und Wohnsilos wurde rücksichtslos enteignet. Ab ungefähr 1937 war auf diese Weise die Mehrheit der Bozner Bevölkerung italienisch!

Gossensass

Exkurs 1: Die Italianisierung der deutschen Namen

Wie kein anderer hat der Faschist Ettore Tolomei bis heute Südtirol verändert. Interessant ist sein System bei der Umwandlung deutscher Namen für Berge, Flüsse, Wälder, Vornamen, Familiennamen und Ortsnamen. Nichts blieb verschont. Vieles in der Geographie ist heute amtlich! Seine Methoden waren einfallsreich: [55]

  1. Übernahme bereits vorhandener italienischer Namen wie Bolzano für Bozen, Merano für Meran.
  2. Suche nach alten, zum Beispiel lateinischen Namen: Sterzing hieß als römisches Lager Vipitenum. Daraus wurde italienisch Vipiteno.
  3. Phonetische Wortfindung: Brennero für Brenner, Brunico für Bruneck, Castelrotto für Kastelruth.
  4. Übersetzung, Etymologie: Lago Verde für Grünsee, Villabassa für Niederdorf.
  5. Schutzpatron oder andere Namen mit Ortsbezug: San Candido für Innichen.
  6. Geografische Ableitung: Colle Isarco (wörtlich Eisack-Hügel) für Gossensaß. (Was aber, niemand weiß es genau, Gotensitz oder Knappensitz bedeuten soll. Henrik Ibsen [56] hatte hier einst Urlaub gemacht.)

Eine Methode funktionierte immer, Fehler eingeschlossen, notfalls mit Brecheisen! Hier eine kleine Sammlung aus Wikipedia [57]! Und da das ganze alphabetische  PRONTUARIO DEI NOMI LOCALI DELL’ALTO ADIGE [58]. Klicken Sie hinein! Kein Dachziegel und keine Pfütze war sicher vor Umbennennung! Siehe auch Die gewaltsame Italianisierung der Familiennamen in Südtirol [59] hier!

Exkurs 2: Die Ladiner

In abgelegenen Alpentälern blieben an mehreren Stellen kleinere und größere Gruppen und Stämme von Menschen und Gemeinden übrig, isoliert und manchmal vergessen, zumindest aber von anderen Sprachen ziemlich abgeschlossen über Jahrhunderte, wie zum Beispiel die 13 Gemeinden bei Verona [60]. So ähnlich muß man sich auch die Rätoromanen in der Schweiz und die Ladiner in Südtirol, etwa im Grödnertal und Gadertal, vorstellen. Ihre Sprache ist [61] eindeutig romanisch und kommt aus dem Lateinischen.

So könnte der Unbedarfte denken, die Ladiner hätten sich bei den erwähnten Auseinandersetzungen um die Annektierung schnellstens den ihnen sprachverwandten Italienern angeschlossen, doch dem ist nicht so. Die Ladiner Südtirols wollten eigentlich schon unter dem Kaiser Autonomie. Im Vertrag von Saint-Germain wurden sie aber nicht einmal erwähnt. Die Faschisten rissen sie in drei Provinzen auseinander, die geschaffen worden waren, um Südtirol leichter zu italianisieren. Ansonsten wurden die Ladiner von Tolomeis Faschisten als “Beweise” benutzt, daß sie eigentlich Italiener seien und das ganze Land seit Kaiser Augustus deshalb italienisch. Italienisch sei auch ihre Sprache, wenngleich in einer heruntergekommenen Form. Diese Töne gefielen den Ladinern absolut nicht.

Langkofel-Gruppe

Die Ladiner gibt es natürlich auch noch heute – runde 30.000 Menschen. In diesem Link beklagen sich einig [62]e über den schwindenden Einfluß des Ladinischen. Mein Eindruck ist, daß Ladinisch gerne benutzt wird, wenn sie unter sich sind oder von den Touristen nicht verstanden werden wollen. Hier die Homepage der Ladiner-Union! [63] Und auf dem Foto sieht man zwei ladinische Berge, links den Langkofel [64] und rechts den Plattkofel [65]!

Vorangegangene Folgen:

Geschichte Südtirols 1 [5] – Prolog
Geschichte Südtirols 2 [6] – Andreas Hofer
Geschichte Südtirols 3 [7] – Der Erste Weltkrieg, Kriegserklärung Italiens
Geschichte Südtirols 4 [8] – Gebirgskrieg 1915-1918

(Der nächste Teil behandelt die „Option“.)

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Geschichte Südtirols 4 – Gebirgskrieg 1915-1918

geschrieben von kewil am in Geschichte,Italien,Österreich | 38 Kommentare

ortler [66]Durch die italienische Kriegserklärung am 23. Mai 1915 war auf einen Schlag eine über 1000 Kilometer lange, neue Front von Triest an der Adria über 300 Kilometer Tiroler Berge hinweg bis zum 3.900 Meter hohen Ortler (Foto) am Stilfser Joch neben der Schweizer Grenze entstanden. Die Italiener hatten bewußt einen Zeitpunkt gewählt, zu dem die aktiven, wehrfähigen Streitkräfte der Österreicher im Osten, im Balkan standen. So einfach, wie sich die Italiener die Eroberung Tirols vorstellten, verlief diese aber nicht. Die Tiroler wehrten sich – wieder einmal!

Gleich am ersten Tag besetzten 38.000 Standschützen – Jugendliche und ältere Männer – Gipfel, Grate, Bänder und Pässe. Dazu kamen Gendarmen. Diese wenigen Kräfte wechselten oft in schneller Folge als Patrouillen ihre Positionen auf den vertrauten Bergen und gaukelten so den italienischen Alpini eine höhere Mannschaftsstärke vor. Ein bekannter Kämpfer aus dieser Phase war der Sextner Bergführer und Wirt der Dreizinnenhütte, Sepp Innerkofler [67], der am 4. Juli 1915 im Kampf um den Gipfel des Paternkofels fiel.

Die Strategie der Standschützen war überaus erfolgreich, sodaß die Stellungen im Gebirge solange gehalten werden konnte, bis im Herbst Hilfe kam: die Kaiserjäger [68], die Landesschützen [69], der Landsturm [70] und das Deutsche Alpenkorps [71]. Und diese Strategie blieb erfolgreich. Wer einmal die Bergspitzen und Grate besetzt hatte, konnte fast nicht mehr vertrieben werden. Eine Luftwaffe, die in 3000 Meter Höhe entscheidend hätte agieren können, existierte damals nicht. Während unten im Tal die österreichischen Festungswerke und Forts die Zufahrtswege sicherten, entwickelte sich oben bald ein Stellungskrieg mit gefährlichen Patrouillen und Stoßtrupps, wie etwa auf dem Monte Piano [72].

aufstiegDer Krieg in den Alpen und Dolomiten war aber auch aus anderen Gründen ungemütlich! Unter größten Anstrengungen mußten Gewehre, MGs, Munition, Holz, Stacheldraht, Essen, Kleidung, Ausrüstung und sogar Mörser und Kanonen auf die Höhen befördert werden. Kilometerlange Unterstände, Kavernen, Tunnel und Stellungen wurden in Felsen und Gletscher gehauen, Leitern, Eisenstege und Materialseilbahnen gebaut. Teilweise haben die Frauen den Nachschub aus dem Tal nach oben befördert. Der Abtransport der Verwundeten war schwierig. Dazu die Absturzgefahr, die eisige Kälte im Winter, der Schnee, das Eis, Felsbrüche, Steinschlag! Alleine durch Lawinen kamen mehr Menschen um als durch direktes feindliches Feuer! Berühmt-berüchtigt wurde die Methode, die Gipfel zu unterminieren und samt Besatzung in die Luft zu jagen wie auf dem Col di Lana [73]. Dazu grub und bohrte man Stollen und Gegenstollen, Maultiere transportierten Tonnen von Dynamit, um sie zu füllen.

Im Sommer waren die Aktivitäten umfangreicher, im Winter hielt man die Stellung. Erst im Jahre 1917 gelang den Österreichern nach der zwölften Isonzo-Schlacht [74] der Durchbruch ins Tiefland bis zur Piave [75], wodurch die Frontlinie in den Dolomiten keine Rolle mehr spielte.

Besonders irr, aber sicher auch hinterlistig, gestaltete sich an dieser Front das Kriegsende 1918. Kaiser Karl I. befahl am 3. November seinen Truppen die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen. Erst später erfuhr man, daß der Waffenstillstand im endgültigen Vertrag auf den 4. November um 15 Uhr festgelegt worden war. Die Österreicher hatten bereits die Waffen abgelegt, und die Italiener “eroberten” mit ihren bewaffneten Truppen noch schnell einige Kilometer zurück, für die vorher drei Jahre gekämpft worden war. Auch politisch hatten die Österreicher Fehler gemacht, zum Beispiel mit der Hinrichtung von Cesare Battisti [76].

Für diese Entwicklungen konnten aber die Tiroler sicher nichts. Sie hatten ihre Grenzen tapfer und absolut erfolgreich verteidigt, niemand im Land glaubte, konnte in den schlimmsten Alpträumen glauben, was folgen würde! Deutschtirol (Nord-, Ost- und Südtirol) beklagte circa 20.000 Tote, das waren 3,5% der Bevölkerung, eine Zahl, die einiges höher lag als der Durchschnitt im übrigen Österreich oder in Deutschland. Und dafür wurde Tirol mit der von den Italienern ersehnten Grenze am Brenner abgestraft. Internetquellen:

Gebirgskrieg 1915–1918 [77]
Gebirgskrieg [78] mit Fotos
Der Gebirgskrieg in den Dolomiten [79]
Österreichische Heeresberichte [80] über die Ereignisse an der italienischen Front (unten jeweils weiter klicken!)

Touristischer Exkurs: Es muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß die Gebirgsfront von 1915 bis 1917 viele Spuren hinterlassen hat und heute abgegangen werden kann. Wer etwa mit der Seilbahn vom Falzarego-Paß auf den Kleinen Lagazuoi hochfährt und die darunterliegenden Geröllhalden sieht (Foto unten), – das ist

falzarego-seilbahn nicht die natürliche Erosion, das sind Steine aus den Stollen, Tunneln und Sprengungen des Dolomitenkriegs. Luis Trenker [81] stand einst in diesem Abschnitt. Genauso sieht man auf vielen Höhenwegen noch Stacheldraht, Holz, Mauerreste, Kavernen, Unterstände und Konservendosen aus dieser Zeit. Viele der sehr beliebten Klettersteige [82] (vie ferrate) haben ihren Ursprung in diesem Krieg gehabt. Fragen Sie, wenn Sie in Südtirol Urlaub machen! Hier eine umfangreichere Fotosammlung [83], die einen Eindruck gibt! Vorangegangene Folgen:

Kleine Geschichte Südtirols 1 [5] – Prolog
Kleine Geschichte Südtirols 2 [6] – Andreas Hofer
Kleine Geschichte Südtirols 3 [7] – Der Erste Weltkrieg, Kriegserklärung Italiens

(Nächste Folge: Südtirol wird italienisch!)

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Kleine Geschichte Südtirols 3 – Erster Weltkrieg, Italien wechselt die Seiten

geschrieben von kewil am in Geschichte,Italien,Österreich | 17 Kommentare

salurner-klause [84]1914 ernährte die Land- und Forstwirtschaft immer noch über die Hälfte der Tiroler Bevölkerung, daneben gab es Handel, viel Handwerk, etwa die Schnitzer aus dem Grödnertal, aber durchaus auch Fabriken. Dazu kam eine beispiellose Entwicklung der Verkehrswege, speziell der Eisenbahn. Und in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich bereits ein nennenswerter Tourismus.

Politisch ging das Leben in Tirol ohne bedeutsame Ereignisse weiter, bis am 28. Juli 1914 Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, was schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete. Und wie überall mußten nun auch die wehrfähigen Tiroler als Untertanen des österreichischen Kaisers an die Front, vornehmlich in den Osten nach Serbien und Galizien. So kam es, daß im Land Tirol, als Italien ein knappes Jahr später, am 23. Mai 1915, Österreich-Ungarn den Krieg erklärte und am Isonzo [74] den ersten Angriff startete, zunächst in vielen Orten nur ältere Männer und wenig Militär zur Verteidigung bereitstanden. Die einheimischen Kaiserjäger kämpften derweil in der Fremde.

Italien hatte trotz gegenteiliger Abmachungen im Dreibund [85] diesen Krieg im “sacro egoismo” [86] mit dem offensichtlich imperialistischen Ziel herbeigeführt, die Situation auszunutzen und die Grenzen nach Norden bis zum Brenner zu verschieben. Dazu muß man wissen, daß Tirol 1914 in der Donaumonarchie noch bis nach Ala [87] in den italienischen Sprachraum hineinreichte. Man sprach von Welschtirol, während die Italiener das Gebiet bereits damals Trentino [88] nannten. Schon im vorigen Jahrhundert hatten aber Politiker wie Giuseppe Mazzini [89] den Alpenhauptkamm als “natürliche” Grenze Italiens im Sinn. Die Irredentisten [90] wollten alle italienischsprachigen Gebiete „erlösen“! Nun, 1914, verlangten die Italiener vom österreichischen Kaiser als Dank für ihre Neutralität das ganze Trentino, und als der sich weigerte, bzw. zu spät nachgab, hatten die Westmächte in Geheimgesprächen in London [91] 1915 Italien längst das ganze Gebiet vertraglich bis zum Brenner (und noch viel mehr) versprochen für den Fall des Kriegseintritts auf ihrer Seite.

Dieses hinterhältig versprochene Gebiet war aber keineswegs von „unerlösten“ Italienern besiedelt, sondern seit urdenklichen Zeiten hatte die Salurner Klause [92] (der Durchgang rechts im Foto zwischen Bozen und Trient, wo die Felsen eng zusammenrücken) eine ganz deutliche deutsche Sprachgrenze gebildet. Nördlich davon waren die Tiroler in einer erdrückenden Mehrheit. Italien machte sich nun also völlig bewußt und ungeniert daran, fremdsprachige Gebiete zu erobern. Und die Tiroler, die vom Londoner Geheimabkommen der alliierten Westmächte bis 1917 gar nichts wußten – verraten hat es später übrigens Lenin -, verteidigten ihr Land erneut im Geist der Freiheit und in der Erinnerung an 1809! (Der nächste Teil handelt von dieser Verteidigung, dem Gebirgskrieg 1915-1917 bis zum Kriegsende 1918.)

» Kleine Geschichte Südtirols 1 [5] – Prolog
» Kleine Geschichte Südtirols 2 [6] – Andreas Hofer

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Kleine Geschichte Südtirols 2 – Andreas Hofer

geschrieben von kewil am in Geschichte,Italien,Österreich | 12 Kommentare

Villnößtal [6]Am 10. September, 1786, fuhr Johann Wolfgang Goethe per Kutsche auf seiner berühmten italienischen Reise [93] von der Paßhöhe des Brenner hinunter nach Südtirol und hielt kurz vor Bozen folgendes fest:

Auf dem Lande, nah am Fluß, die Hügel hinauf, ist alles so enge an und in einander gepflanzt, daß man denkt, es müsse eins das andere ersticken: Weingeländer, Mais, Maulbeerbäume, Äpfel, Birnen, Quitten und Nüsse. Über Mauern wirft sich der Attich lebhaft herüber. Efeu wächst in starken Stämmen die Felsen hinauf und verbreitet sich weit über sie; die Eidechse schlüpft durch die Zwischenräume, auch alles, was hin und her wandelt, erinnert einen an die liebsten Kunstbilder. Die aufgebundenen Zöpfe der Frauen, der Männer bloße Brust und leichte Jacken, die trefflichen Ochsen, die sie vom Markt nach Hause treiben, die beladenen Eselchen, alles bildet einen lebendigen, bewegten Heinrich Roos [94]. Und nun, wenn es Abend wird, bei der milden Luft wenige Wolken an den Bergen ruhen, am Himmel mehr stehen als ziehen, und gleich nach Sonnenuntergang das Geschrille der Heuschrecken laut zu werden anfängt, da fühlt man sich doch einmal in der Welt zu Hause und nicht wie geborgt oder im Exil…

Aber nicht überall im Land herrschte Wohlstand wie in Bozen, und in den Seitentälern der Alpen mußten die Bauern ihr Brot meist beschwerlich erarbeiten; aber sie hingen alle an diesem Flecken Erde, und die Tiroler waren äußerst konservativ und wehrhaft. Das erfuhren die Franzosen, als sie 1796/1797 Tirol zunächst erfolglos angriffen. Auf dem Bild unten sieht man Katharina Lanz [95] bei der Schlacht von Spinges 1797!

katharina-lanzNach Napoleons Siegen überall in Europa wurde Tirol aber im Frieden von Pressburg [96]1805 an die Bayern abgetreten, deren Herrschaft und deren staatliche, kirchliche und militärische Reformen den Tirolern so sehr gegen den Strich gingen, daß es schließlich im Jahr 1809 zum Volksaufstand, zum Freiheitskampf für Gott, Kaiser und Vaterland kam unter den heute noch bekannten Anführern Hofer, Speckbacher [97], Mayr [98] und Haspinger [99]. Vor allem daß in Südbayern, wie Tirol nun heißen sollte, von den Besatzern nach Aufhebung des Landlibell [100] Rekruten ausgehoben werden konnten, führte zur Erhebung. Mander, es isch Zeit, soll Hofer gesagt haben, und die Schützen folgten!

andreas-hoferInsbesondere Andreas Hofer [101] (Abb.), der Sandwirt aus St. Leonhard [102] im Passeiertal, wurde ein Nationalheld und erregt bis heute die Phantasie [103]. Vier Schlachten wurden am Bergisel [104] (das ist da, wo heute die Olympiaschanze von Innsbruck steht) gegen Bayern und Franzosen geschlagen, drei gewonnen, die letzte verloren. Der Kaiser in Wien, auf den die Tiroler gesetzt hatten, war nie eine Hilfe gewesen! Hofer – durch Verrat gefangen – wurde 1810 zu Mantua in Banden [105] erschossen! Er ist mit Speckbacher und Haspinger in der Hofkirche zu Innsbruck begraben.

Das Leben ging natürlich auch nach 1810 weiter, Napoleon verschwand von der Bühne, Tirol kam wieder an die Habsburger, die den Tirolern und ihrer Freiheitsliebe jedoch durchaus mißtrauten. Die Überführung Hofers nach Innsbruck war eine Nacht- und Nebelaktion der Kaiserjäger, aber gar nicht im Sinne Seiner Majestät des Kaisers selbst, der vor allem Ruhe im Land wollte. Zweimal noch in den nächsten 50 Jahren drohte Tirol Gefahr – diesmal aus  dem Süden. Um 1848 drängten Freischärler – Stichwort Giovane Italia [106]– aus der Lombardei heran und wollten die Grenzen verschieben, und 11 Jahre später war es Garibaldi [107], der im Krieg Österreichs gegen Piemont-Sardinien im Norden aktiv wurde. Beide Male wurde in Tirol der Geist von 1809 wachgerufen, und beide Male die Gefahr abgewendet.

Das tägliche Leben blieb während dieser Zeiten in vielen Teilen Tirols wie überall in den Alpen ein schweres. Armut war weit verbreitet. Nicht jeden ernährte ein Bauernhof oder ein Handwerk. Es gab ledige Kinder, Zweit- und Drittgeborene, die als Tagelöhner, Melker, Knechte und Mägde, Wildschützen, Krämer, Vogelhändler, Schmuggler und Hausierer ein Auskommen suchen mußten. Viele zogen ganz weg und wanderten aus bis nach Brasilien [108] und Peru. Bekannt geworden sind auch die sogenannten Schwabenkinder [109], die aus Armut alljährlich im Frühjahr durch die Alpen zu den Kindermärkten hauptsächlich nach Oberschwaben wanderten, um dort als Arbeitskräfte für eine Saison an Bauern vermittelt zu werden. Erst nach 1920 verschwand das Schwabengehen endlich ganz!

Auch war Tirol nicht überall streng katholisch, wie man vermuten könnte. Im Zillertal etwa hatten sich lange Protestanten gehalten [110], die man aber vor die Wahl stellte, zu konvertieren oder auszuwandern, was die meisten 1837 taten. Die geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhundert machten an den Landesgrenzen natürlich keinen Halt, können in diesem kurzen Abriß aber nicht ausgeführt werden.

» Der Tiroler Freiheitskampf [111] und dessen Mythos
» Tiroler Freiheitskampf 1809 [112]
» Das Landlibell von 1511 [113]
» Kleine Geschichte Südtirols 1 – Prolog [5]

(Auf dem Foto ganz oben sieht man das Villnößtal mit den Geisler Spitzen, dem Sass Rigais und der Furchetta. Der nächste Teil der Serie handelt vom Ersten Weltkrieg in Südtirol und erscheint demnächst.)

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Kleine Geschichte Südtirols 1 – Prolog

geschrieben von kewil am in Geschichte,Italien,Österreich | 49 Kommentare

schloss-tirol [114]Jahr für Jahr fahren Hunderttausende von Touristen über den Brenner [115] nach Italien, die meisten auf der Autobahn, von der aus man nicht viel sieht von den wunderbaren Bergen und anmutigen Tälern, andere bleiben gleich hinter der Grenze irgendwo zwischen den Flüssen Etsch, Eisack, Rienz, Passer und Talfer hängen und verbringen dort ihren Urlaub. Aber auch Italiener zieht es im August in Scharen aus dem heißen Rom und den oberitalienischen Städten hinauf in die höhergelegenen Bergregionen der Alpen und Dolomiten zur Sommerfrische. Gemeinsam dürfte allen sein, daß sie wenig davon wissen, was sich in diesem Landstrich alles abgespielt hat und warum dort bis heute Deutsch gesprochen wird.

Die Gegend ist seit vielen tausend Jahren besiedelt, der “Ötzi” [116] war Tiroler, und weil der Brenner mit 1375 Metern der niedrigste Nord-Süd-Paß über den Alpenhauptkamm ist, war der Verkehr meist beträchtlich. Die Kimbern fielen von dort in Italien ein, der römische Feldherr Drusus überquerte ihn, die Goten zur Zeit Theoderichs des Großen zogen von Süden heran. Deutsche Könige überquerten den Brenner von Norden und kamen als Kaiser aus Rom zurück. Die Bajuwaren [117] (Baiern) zogen ins Land, und irgendwann entstand im 12. Jahrhundert die Grafschaft Tirol, ausgehend vom Schloß Tirol (Foto) [118] nördlich von Meran. Alte Sagen berichten aus längst vergangenen Zeiten vom Zwergenkönig Laurin im Rosengarten [119] hoch oberhalb von Bozen und von Dietrich von Bern [120]. Der letzte Minnesänger und Ritter Oswald von Wolkenstein [121] zog im Alter von 10 Jahren aus Südtirol in die Welt hinaus:

Es fuegt sich, do ich was von zehen jaren alt,
ich wolt besehen, wie die welt wär gestalt.
mit ellend, armuet, mangen winkel haiss und kalt
hab ich gepaut pei cristen, kriechen, haiden.
Drei pfenning in dem peutel und ain stücklin prot
das was von haim mein zerung, do ich loff in not…

Und er kam weit bis

Gen Preussen, Littwan, Tartarei, Türkei, uber mer,
gen Frankreich, Lampart, Ispanien, mit zwaien kunges her…

Natürlich war der Brenner immer auch eine wichtige Handelsstrasse gewesen. Händlerkarawanen zogen auf dem Weg vom Fondaco dei Tedeschi [122] in Venedig ins Augsburg der Fugger durch Tirol. Andere Routen führten bis an die Ostsee. 1363 fiel Tirol von den Baiern schließlich an die Habsburger, wo es mit einigen kürzeren Unterbrechungen bis nach dem Ersten Weltkrieg verblieb! Vom Dreißigjährigen Krieg, der in Deutschland so schwere Verheerungen angerichtet hatte, wurde das ganze Tirol [123] übrigens ziemlich verschont! Trotz der immensen strategischen Bedeutung des Landes gibt es in der Geschichtsschreibung immer wieder Lücken, und es kann natürlich nicht jedes Ereignis zur Sprache kommen.

(Der nächste Teil der Serie behandelt die Jahrzehnte in Tirol vor und nach 1800 und erscheint demnächst. Habe den Text in meinem alten Blog vor über fünf Jahren veröffentlicht, er ist angesichts des letzten Wahlergebnisses in [20] Südtirol höchst aktuell!)

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