„Wo ist das Wohnzimmer für die Frauen?“
Die Wohnwünsche von Migranten sind deutschen Immobilieneigentümern wenig bekannt. Dabei stellen sie in manchen Regionen schon die Mehrheit der Mieter.
Von Miriam Beul
Gelsenkirchen. „Als ich 23 Jahre alt war, hatte ich schon vier Kinder“, sagt Serife Özgen. „Wir sind oft umgezogen.“ Heute ist sie 42 Jahre alt und hat fünf Kinder: zwei Töchter (19 und 22 Jahre) und drei Söhne (13, 20 und 23 Jahre). Die Familie bewohnt inzwischen ein umgebautes Zechenhaus in der Schüngelberg-Siedlung in Gelsenkirchen-Buer. Eine Heimkehr für Serife, die schon als Kind hier wohnte.
Rund 250 solcher Häuser mit rund 550 Wohneinheiten bilden den historischen Kern der gartenstädtischen Siedlung, die zwischen 1897 und 1919 für die Bergleute der Zeche Hugo erbaut worden ist. Heute erinnern die hellen aufgeräumten Straßenzüge mit ihren glatten Fassaden an eine übergroße Puppenstube: Von Dreck, Kohle und Staub keine Spur. „Hier war früher eine Wand. In diesem Teil der Küche war mein Kinderzimmer“, erklärt Serife Özgen und zieht in ihrer modernen, etwa 25 Quadratmeter großen Wohnküche eine imaginäre Linie.
Serife kam als Kind mit ihrer Familie aus der Türkei, bewohnte damals den Mitteltrakt des heutigen Hauses. Von ihrem Fenster aus konnte sie Sati sehen, ihren heutigen Ehemann. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern im Zechenhaus gegenüber. So lernten die beiden sich vor 27 Jahren kennen. Sie heirateten, dann kamen die Kinder. Die Özgens benötigten mehr Platz.
Notgedrungen verließen sie die Siedlung und mieteten eine Hochhauswohnung in der Nachbarschaft an. 90 Quadratmeter für acht Personen, denn im Haushalt lebten außer den vier Kindern noch Serifes Schwiegereltern. Von „Spannungen“ oder „Problemen“ wissen die Özgens aus dieser Zeit nichts zu berichten. Wohl aber davon, dass die Atmosphäre im Haus anonym war. Zufrieden waren sie mit ihrer Wohnsituation jedenfalls nicht. Es folgten weitere Umzüge innerhalb von Gelsenkirchen. Doch immer fehlten Zimmer, Kellerräume, ein Garten. Und bezahlbar musste die Wohnung schließlich ebenfalls sein. Alleinverdiener Sati Özgen ist seit seinem 15. Lebensjahr Bergmann von Beruf.
Eine Menge Zufälle und ein Funken Glück sorgten dafür, dass Serife mit ihrer Familie vor zehn Jahren in das Haus ihrer Kindheit zurückkehren konnte. 1981 erwarb die Essener Treuhandstelle GmbH (THS) die zum damaligen Zeitpunkt fast unbewohnbar gewordene Schüngelberg-Siedlung. Als Projekt der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (IBA) wurde sie dann zwischen 1988 und 1998 denkmalgerecht modernisiert. Drei kleine Wohnungen wurden dabei zu zwei größeren zusammengelegt. In eine von ihnen zogen die Özgens mit ihren inzwischen fünf Kindern vor zehn Jahren ein.
„Früher gab es in dem Haus nur ein WC, aber kein Badezimmer“, erinnert sich Serife. Heute sind Ausstattung und Grundriss der dreistöckigen, 100 Quadratmeter großen Doppelhaushälfte für die türkischstämmige Familie ideal. Durch einen für Sati „etwas zu engen Flur“ gelangt man links in die schnörkellos eingerichtete Wohnküche. Links an der Wand steht eine langgezogene Eckbank, davor ein großer Esstisch. Von dort aus können die Familienmitglieder den Frauen beim Kochen zusehen, gleichzeitig aber auch das Fernsehprogramm verfolgen, denn die rechte Zimmerwand nimmt ein moderner flacher LCD-Fernseher ein.
Auf der anderen Seite des Flures schließt sich ein etwa genauso großes, klassisches Wohnzimmer an: Eine gemütliche Sofaecke, ein großer Tisch, ein Fernseher. „In der Küche machen wir das Essen. Aber hier findet auch ein Großteil des Familienlebens statt. An manchen Tagen ist sie auch das Wohnzimmer für die Frauen„, sagt Serife. Das Gäste-WC befindet sich neben dem anderen Wohnzimmer, das bei Feiern den Männern vorbehalten ist.
Ihr heutiges Zuhause entspricht nicht nur wegen der beiden Wohnzimmer sowie der verhältnismäßig günstigen Miete dem, was Familie Özgen als ideal bezeichnet. Die Schlafzimmer für Söhne und Eltern befinden sich im ersten Stock. Von ihren Brüdern räumlich getrennt, bewohnen die Töchter die Mansardenzimmer unter dem Dach. Es gibt Kellerräume, um Lebensmittel zu lagern.
Hinter den Häusern erstrecken sich weitläufige Gärten – typisch für Zechensiedlungen, denn die Bergarbeiterfamilien versorgten sich überwiegend selbst. Der eigene Gemüsegarten ist Serifes ganzer Stolz. Die Bewohner der Straße haben keine Zäune gezogen. Man lebt eng mit den Nachbarn zusammen, weil man sich gerne hilft, miteinander befreundet oder sogar verwandt ist. „Wir stellen abends oft die Stühle im Garten zusammen und unterhalten uns“, sagt Sati.
Geht es nach dem Reisepass, haben 33 Prozent der „Schüngelberger“ einen Migrationshintergrund, davon 30 Prozent mit türkischen Wurzeln. Entsprechend jung ist das Viertel:. 75 Prozent der Bewohner sind unter 50 Jahre alt, 43 Prozent sind jünger als 30 Jahre. In vielen rein deutschen Quartieren sind die Bewohner im Durchschnitt doppelt so alt.
Dass türkischstämmige Familien ihre Wohnwünsche in einem Zechenhaus offenbar besser verwirklichen können als in einer herkömmlichen Wohnung der gleichen Preis- und Lagekategorie, hat verschiedene Ursachen. Zwar haben sich auch unter Migranten längst verschiedene „Milieus“ herausgebildet, deren Wohnstil sich kaum mehr von „deutschen Milieus“ unterscheidet. „Die breite Mitte stellt aber immer noch spezifische Anforderungen an Wohnraum und Wohnumfeld“, sagt Karl-Heinz Petzinka, Vorsitzender der THS-Geschäftsführung.
So habe die Gemeinschaft in der Familie noch immer eine fundamentale Bedeutung und brauche daher auch Raum zur Entfaltung. Die Küche sei zentraler Ort des Familienlebens. Gleichzeitig fungiere sie wie bei Familie Özgen zusätzlich als ,Wohnzimmer der Frauen‘, wenn mehrere Familien zusammenkommen. „Der Wunsch nach einer großen Wohnküche, und zwar getrennt vom Wohnzimmer, findet sich in unseren Befragungen immer ganz weit oben auf der Liste“, berichtet der THS-Chef.
Diese Anforderung lasse sich in einer nach deutschen Maßstäben gebauten Wohnung des unteren oder mittleren Preissegmentes schon seit den siebziger Jahren kaum darstellen. Entweder seien die Küchen zu klein oder in klassischen Neubauprojekten immer häufiger durch die beliebten offenen Grundrisse in die Wohn-/Esszimmer-Situation integriert.
Wegen der erfreulicherweise noch deutlich höheren Kinderquote bei türkischstämmigen Familien seien zudem die Kinderzimmer ein wesentlicher Faktor bei der Wohnungssuche. „Hier wissen wir, dass die Kinder vom ersten Tag an in jedem Fall getrennt nach Geschlecht unterzubringen sind„, berichtet der Architekturprofessor mit Lehrstuhl in Düsseldorf weiter. Bedürfnisse dieser Art seien in Häusern der Nachkriegszeit oder eben in modernisierten Zechenhäusern ebenfalls leichter zu realisieren als in herkömmlichen deutschen Wohnungen. Die THS habe viele ihrer Quartiere gezielt darauf hin entwickelt und ehemalige kleine Doppelhäuser zu einer Einheit zusammengelegt.
Dass die Wohnwünsche von Migranten, die mancherorts den Großteil der Bewohnerschaft ausmachen, zu wenig berücksichtigt werden, beobachtet auch Bernd Hallenberg, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes für Wohnen und Stadtentwicklung (vhw). Wohnwünsche und Wohnrealität klafften bei den meisten Migranten weit auseinander. Und das habe längst nicht nur mit den geringeren finanziellen Möglichkeiten zu tun. Im Gegenteil: Gerade besserverdienende Migrantengruppen seien in Deutschland qualitativ unterversorgt.
Eine erste bundesweit repräsentative Befragung (Wohnsituation und Wohnwünsche von Migranten, Dezember 2008) habe ergeben, dass jeder zehnte Befragte innerhalb der nächsten fünf Jahre den Erwerb von Wohneigentum plant. „Unsere Bauträger hätten in den vergangenen Jahren bedeutend mehr Eigenheime an Menschen mit Migrationshintergrund verkaufen können, doch die Kommunen verhindern dies durch die willkürliche Festlegung von Quoten“, sagt Roswitha Sinz vom Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen. Gewollt sei eine „gesunde Mischung“ in den Quartieren. Und gerade in Zeiten des demographischen Wandels frage man sich, ob diese Mischung allein an der nationalen Herkunft festgemacht werden könne oder ob nicht das Alter der Bewohner und ihr Milieu ebenfalls wichtige Faktoren seien.
THS-Geschäftsführer Petzinka bemängelt vor allem, dass ein nutzerspezifisches Immobilienangebot in Deutschland fehlt, und spielt damit auf die Bedürfnisse der Mieter und potentiellen Immobilienerwerber mit türkischem Hintergrund an. „Es wäre höchst spannend und als Integrationssymbol vermutlich auch äußerst hilfreich, einmal ein Quartier, ein Dorf, einen Stadtteil komplett nach den Anforderungen türkischer Bewohner zu entwickeln und zu bauen – und zwar in der Breite der inzwischen durchaus differenzierten Wohnbedürfnisse“, sagt er.
Gedankliche Vorstöße in diese Richtung habe er schon gemacht. Aber es habe sich dabei herausgestellt, dass neben den entscheidenden wirtschaftlichen Parametern einer solchen Immobilienentwicklung auch die besonderen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen passen müssten. In Duisburg-Marxloh sei der Bau eines Quartiers für Türken, das nach türkischem Baurecht als Kulturhauptstadtprojekt verwirklicht werden sollte, an allzu heterogenen Interessen vorläufig gescheitert. Von den vielen überflüssigen Umzügen der Özgens hätte man dort sicher viel lernen können.
Dass Männer kochen? Unvorstellbar. Das ist Frauensache. Die Männer sehen gemütlich vom Wohnzimmer aus zu. Nurhausfrauen haben dann auch eine erfreulich hohe Kinderschar. Die Autorin des Artikels wird sich selbst nicht in eine solche Position manövrieren. Keiner hindert sie, nur daheim zu bleiben und eine „erfreulich hohe Kinderzahl“ zu produzieren. Und die Geschlechterapartheid von Geburt an scheint bei ihr auch nicht mal ein Räuspern auszulösen.
(Spürnase: Florian G.)